Die kirchliche Hilfeeinrichtung beklagt, dass die offiziellen Erwerbslosenzahlen und die tatsächliche Zahl wenig gemein haben. Als kurioser Beleg taugt der Erwerbslosentreff in Sindelfingen. Keiner seiner Stammgäste gilt amtlich als arbeitslos.

Böblingen: Marc Schieferecke (eck)

Böblingen - Die Statistik ist nicht gefälscht. „Davon würde ich nicht sprechen“, sagt Klaus Kittler. Wohl aber davon, dass die Zahl der Arbeitslosen weit höher ist als die Zahlen, die die Arbeitsagenturen monatlich veröffentlichen – erst recht die Zahl der Armen. Kittler selbst hat seinen Arbeitsplatz bei der Diakonie Württemberg. Die evangelische Wohlfahrtsorganisation fühlte sich zum Jahresbeginn genötigt, einen Gegenrede zu den Jubelkommentaren zu veröffentlichen, gemäß denen die Arbeitslosigkeit auf den tiefsten Stand seit der Wiedervereinigung gesunken sei.

 

Die beiden Spitzenreiter im landesweiten Vergleich sind die Kreise Rottweil und Biberach. Sie erreichen eine offizielle Arbeitslosenquote von nur 2,1 Prozent, was sogar unter der rechnerischen Vollbeschäftigung liegt. Schlusslicht ist mit 5,8 Prozent die Stadt Pforzheim. Mit seinen 2,8 Prozent ist der Landkreis Böblingen immerhin noch Primus in der Region Stuttgart.

Der Landkreis will einen eigenen Armuts- und Reichtumsbericht veröffentlichen

Allerdings beschleicht auch den Landrat der Boomregion Böblingen, Roland Bernhard, der Verdacht, dass diese Statistiken beschränkte Aussagekraft haben. Bernhard beklagt, dass trotz aller Wirtschaftskraft des Kreises „die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter aufgeht“. Weshalb das Landratsamt im Verlauf des Jahres einen kreiseigenen Armuts- und Reichtumsbericht veröffentlichen will.

Das Ergebnis ist in gewissem Maße vorhersehbar. „Es gibt Gruppen, die ohne intensive Förderung für den Arbeitsmarkt verloren sind“, sagt Kittler. Gemeint sind Langzeitarbeitslose. Kittlers Einschätzung teilt manche Arbeitsagentur, die des Rems-Murr-Kreises hoch offiziell: Langzeitarbeitslosen Jobs zu verschaffen, „gelingt trotz Ausschöpfung aller Möglichkeiten nur sehr schwer“, lassen die Vermittler wissen und ermuntern Betroffene mit dem Gruß „Tschüss Langzeitarbeitslosigkeit!“ zur Teilnahme an speziellen Programmen.

Mehr als eine Million Deutsche leben dauerhaft von Hartz IV

Was angebracht scheint. Mehr als eine Million Deutsche leben seit 2005 dauerhaft von Hartz IV, dem Jahr, in dem die Regelung in Kraft trat. Dabei gelten bei weitem nicht alle, die jahrelang ohne Arbeit sind, als Arbeitslose. Die tatsächlichen Zahlen verbergen sich in der Statistik hinter Umschreibungen: Arbeitssuchende, Unterbeschäftigte, Langzeitleistungsbezieher oder Bedarfsgemeinschaften.

Weshalb nach amtlicher Lesart zum Arbeitslosenreff in Sindelfingen kein einziger Arbeitsloser kommt. Die Besucher sind allesamt Stammgäste und allesamt aus der Statistik gestrichen. Der Grund ist denkwürdig: Sie sind schon zu lang ohne Arbeit. Alle 14 Tage lädt die evangelische Betriebsseelsorge ein. Die Zahl der Teilnehmer „ist etwa gleich geblieben“, sagt der Betriebsseelsorger Andreas Hiller. „Ein, zwei Leute sind in letzter Zeit neu hinzugekommen.“ Die anderen sind seit dem Gründungsjahr Dauergäste, seit 2007. Sie hatten einst gut bezahlte Jobs, meist bei IBM oder HP.

Seit ihrer Kündigung hatten sie keine Chance, altershalber. Keiner war damals jünger als 50 Jahre. Inzwischen harren sie ihrer Rente, „um nicht mehr als Sozialfall zu gelten“, sagt Hiller. Wer älter als 58 Jahre ist, wird automatisch aus der Arbeitslosenstatistik gestrichen. Gleiches gilt für die sogenannten Unterbeschäftigten: Ein-Euro-Jobber, Arbeitslose, die ein paar Wochen für ein Zubrot jobben, alle, die einen Fortbildungskurs absolvieren, Niedriglöhner, die mit staatlichem Zuschuss leben. Hinzu kommen, Eltern mit Kleinkindern, jeder, der zum Stichtag der Statistik krank gemeldet ist. Sie alle summieren sich im Kreis Böblingen auf eine Unterbeschäftigtenquote von vier Prozent. Würde sie zur Arbeitslosenquote von 2,8 Prozent addiert, verlöre die aktuelle Statistik ihren Glanz.

Die Jobcenter erfassen ihre eigenen Zahlen der Bedürftigen

Die Zahl derjenigen, die vollständig oder teilweise vom Staat leben – landläufig von Sozialhilfe – spiegelt auch diese Statistik unvollständig. Sie erfasst das Jobcenter. Das Zahlenwerk für den Landkreis im Jahr 2017 ist noch nicht veröffentlicht. In dem für 2016 ist zu lesen, dass trotz deutlich geringerer Arbeitslosigkeit „keine nachhaltige Reduzierung der Leistungsbezieher/innen erreicht werden konnte“. Im Gegenteil: Rund 12 600 Kreisbewohner lebten Ende 2016 von Hartz IV, gut fünf Prozent mehr als ein Jahr zuvor. Als arbeitslos galten weniger als 3500 von ihnen. Die hohe Differenz erklärt sich auch damit, dass in dieser Kategorie die Kinder von Hartz-IV-Empfängern erfasst sind. Von Januar bis November 2017 ist die Zahl der Bedürftigen weiter gestiegen, nicht nur im Kreis, sondern im ganzen Land.

Ungeachtet all dessen bleibt die Statistik ungefälscht. „Es ist das Ergebnis politischer Vorgaben, dass die Zahlen so aussehen“, wie Kittler sagt. Spitz formuliert, wird das Elend kleingerechnet. Zumindest vordergründig hat die Politik es zum Jahreswechsel gut gemeint mit den Hartz-Empfängern. Ihr Sozialsatz für die Lebenshaltung stieg von 409 auf 416 Euro. Was einem Plus von 1,7 Prozent entspricht, aber einem realen Minus im Geldbeutel, wie die Diakonie beklagt. Schließlich seien die Lebensmittelpreise um 3,8 Prozent gestiegen.