Das Böblinger Finanzamt liegt mit einem Frauenanteil von 84 Prozent deutlich über dem Durchschnittswert aller Steuerbehörden in Baden-Württemberg.

Böblingen: Kathrin Haasis (kat)

Kreis Böblingen - Klischees kann Ulla Ott nicht leiden. Und diese Abneigung hängt mit ihrem Arbeitsplatz zusammen: Das Finanzamt Böblingen bietet viel Platz für Vorurteile. Abgesehen davon, dass es eng mit dem unbeliebten Thema Steuern verbunden ist, arbeiten dort überdurchschnittlich viele Frauen. Von den 304 Mitarbeitern sind 84 Prozent weiblich – so viele wie in keinem anderen Finanzamt von Baden-Württemberg. Solche Zahlen rufen oft Assoziationen wie Zickenkrieg oder wahlweise Kaffeekränzchen hervor. „Diese Klischees kann ich nicht bestätigen“, sagt Ulla Ott, die als Geschäftsstellenleiterin unter anderem fürs Personal zuständig ist. Ihrer Meinung nach werden sie vor allem von Männern verbreitet.

 

Im Böblinger Finanzamt ist das Betriebsklima gut. Und das könnte wiederum daran liegen, dass die Mitarbeiter genau so viel arbeiten, wie es ihnen gerade passt. Julia Metzing kommt etwa mittwochs bis freitags ganztags, was 60 Prozent einer Vollzeitstelle entspricht. Sie hat zwei Kinder, acht und fünf Jahre alt, und war erst zwei Jahre und dann eineinhalb Jahre in Elternzeit. „Wir haben hier im Amt viele Möglichkeiten“, sagt die Sachbearbeiterin für internationales Steuerrecht. Zwischen 25 und 90 Prozent ist aus familiären Gründen fast alles erlaubt, und Änderungen werden innerhalb von wenigen Monaten umgesetzt.

Frauen kommen schneller zurück

„Der Job ist attraktiv für Frauen“, sagt Ulla Ott. Die Steuer lässt sich nicht nur gut in Teilzeit erledigen, sondern auch von zu Hause aus. Telearbeit in Kombination mit Innendiensttagen wird im Böblinger Finanzamt gefördert. Eine Steuererklärung muss schließlich nicht an einem Tag fertig sein, und der Aufwand lässt sich leicht berechnen. In einer Abteilung werden bis zu 5000 Fälle im Jahr bearbeitet. Dafür sind entweder fünf Ganztageskräfte nötig oder die entsprechende Teilzeitzahl. „Das Beste ist: Die Frauen bleiben nicht mehr so lange daheim“, sagt die Geschäftsstellenleiterin. Früher seien Pausen von zehn bis 15 Jahren üblich gewesen. Jetzt können die Frauen schnell zurückkommen und bleiben im komplizierten Steuerrecht auf dem aktuellen Stand.

Ein Job bei einer Behörde ist für Frauen nicht das Schlechteste, dachte sich Julia Metzing in jungen Jahren. „Steuerrecht ist voll spannend“, betont die Diplom-Finanzwirtin. Sie ist für die Abgaben von Arbeitnehmern zuständig, die im Ausland arbeiten, oder für Menschen, die Renten aus anderen Ländern erhalten. Von der Schweiz bis Kambodscha reichen ihre Recherchen. „Es ist der interessanteste Bereich im Amt“, erklärt sie. Da fällt Ulla Ott ihr ins Wort: „Das war doch meiner.“

Männer auf der Überholspur

Die Geschäftsstellenleiterin ist dem Böblinger Amt seit 1973 treu. Rund 20 Jahre lang erledigte sie im Außendienst und mit einer 50-Prozent-Stelle Betriebsprüfungen. „Da haben mich viele Männer karrieremäßig überholt, aber ich konnte es hinterher wieder retten“, erzählt die 63-Jährige. Schon beim Vorstellungsgespräch hätten sie die Entwicklungsmöglichkeiten überzeugt, mittlerweile hat sie die höchste Stufe erreicht. Zwar ist im November mit Werner Fritz ein neuer Vorsteher nach Böblingen gekommen, aber auch dieses Klischee nimmt Ulla Ott auseinander: Vor sechs Jahren war sowohl der oberste Posten als auch die Stellvertretung mit einer Frau besetzt. Von 18 Sachgebietsleitern sind im Finanzamt immerhin sieben weiblich.

„Es ist schön zu wissen, dass es weitergeht“, sagt Metzing über die Karrierechancen. Eine Warnung schiebt Ott hinterher: Die durch die Teilzeit verursachten Ausfälle in der Rente lassen sich nicht mehr aufholen. Und dass in Böblingen der Frauenanteil so hoch ist, liegt zu einem großen Teil daran, dass die Männer lieber in der Industrie anheuern.

Hoher Anteil im Vergleich

In Baden-Württemberg ist der Anteil erwerbstätiger Frauen so hoch wie in keinem anderen westdeutschen Bundesland. Im Jahr 2018 haben 2,7 Millionen und damit 78 Prozent der Frauen im Alter von 20 bis 65 Jahren gearbeitet, hat das Statistische Landesamt berechnet. Nur in Ostdeutschland sind mehr Frauen berufstätig: in Brandenburg sind es 80,3 Prozent, in Sachsen 79,6 Prozent und in Thüringen 78,9 Prozent.

Im vergangenen Jahr lag ihr Anteil neun Prozentpunkte unter dem der Männer – 2005 betrug der Unterschied 15 Prozentpunkte. Nur zwei Prozent der abhängig beschäftigten Frauen arbeiten in einer herausgehobenen Führungsposition. Bei den Männern lag die Zahl bei fünf Prozent