Vom Geräuschemachen bis zum Spotify-Podcast: Die ARD Hörspieltage zeigen, dass wirkliche Hörspielkunst weit mehr ist als das, was heute jeder selbst am Smartphone produzieren kann.

Stuttgart - Wenn auf der Bühne Knochen knacken, ist es in Wahrheit meistens Sellerie. „Unter Geräuschemachern sind Paprika und Sellerie für diesen Effekt sehr beliebt“, sagt Annika von Trier und bricht prompt eine große Staude vor einem tief hängenden Mikrofon entzwei. Das Geräusch hallt durch den Raum, die Anwesenden zucken unwillkürlich zusammen. Von Trier lacht. Seit zwei Jahren ist sie eine von rund zwanzig Geräuschemachern in Deutschland, die ihren Beruf live auf einer Showbühne ausüben. An diesem Abend unterstützt sie mit ihrer komplett analog entwickelten Soundcollage das Live-Hörspiel „Der Mieter“ von Alfred Hitchcock, das bei den ARD-Hörspieltagen im Karlsruhe aufgeführt wird.

 

Das Hörspiel spielt sich im Kopf der Zuhörer ab

„Ich bin hier die Handwerkerin auf der Bühne“, erklärt von Trier und zeigt, wie sie zum Beispiel mithilfe zweier Kokosnussschalen und eines geliehenen Halfters eine ganze Pferdekutsche imitieren kann. „Ich gebe der Geschichte durch meine Geräusche einen roten Faden.“ Tatsächlich spielen sich die meisten Aspekte der Hörspielversion des Hollywood-Klassikers an diesem Abend in den Köpfen der Zuschauer ab: das düstere London des spätviktorianischen Zeitalters; ein geheimnisvoller Untermieter, der vielleicht der Frauenmörder Jack the Ripper ist, vielleicht aber auch nur ein ehrwürdiger Gentleman; die Hysterie im Kopf der gutherzigen Vermieterin, die um ihre hübsche, junge Tochter bangt. Auf der Bühne lesen vier Schauspieler insgesamt 12 verschiedene Rollen. Doch erst in der Fantasie des Publikums entspinnt sich daraus ein Geflecht an unheimlichen Verschwörungen.

Hörspiele leben seit jeher in den Köpfen ihrer Hörer. In den 1930er und 1940er Jahren, in denen das Radio als neues Medium erstmals die Haushalte aufwirbelte, galten Audio-Geschichten wie „Krieg der Welten“ als Institutionen. Hollywoodstars brachten regelmäßig ihre eigenen Filme live auf die Bühne, der Filmregisseur übernahm oftmals Skript und Regie. Und für all jene, die keine Karten für das Live-Spektakel in einem der Theater am Hollywood-Boulevard bekamen, wurde das Hörspiel live ins Wohnzimmer übertragen – eine Medienrevolution.

Wie positioniert sich das Hörspiel im Zeitalter des Podcasts?

Auch bei den ARD-Hörspieltagen ist der Reiz dieser Zeitreise noch immer spürbar. Auf der Bühne verwandeln die Darsteller das Skript im Rahmen der Reihe „Hollywood on Air“ in einen mitreißenden Thriller. Doch auch jenseits von Nostalgie-Gefühlen ist festzustellen: Die diesjährigen ARD-Hörspieltage finden in einer Zeit statt, in der das Akustische für viele Menschen wieder attraktiv geworden zu sein scheint. Die Zahl derjenigen, die in Deutschland beispielsweise regelmäßig Podcasts hören, steigt seit Jahren kontinuierlich an. Dies zeigen zumindest die Ergebnisse einer Umfrage von Bitcom Research. Gründe dafür seien, so eine Studie von Statista, der Unterhaltungswert vieler Formate und der Wunsch, sich beim Hören nebenbei bilden, Neues lernen zu können.

„Mein Verdacht ist auch, dass dieses Phänomen etwas mit der heutigen gesamtgesellschaftlichen Situation zu tun haben“, sagt Martina Müller-Wallraf, die gemeinsam mit Ekkehard Skoruppa die Leitung der Hörspieltage innehat. „In einer Zeit, in der unsere Aufmerksamkeit durch viele Angebote gefordert wird, könnte es eine Unterversorgung mit großen Geschichten geben“, mutmaßt sie. Außerdem sei die Tatsache von Vorteil, dass man Audioformate bequem nebenbei konsumieren könne.

„Es gibt zwischen den beiden Formaten keine Konkurrenz“

Dabei muss sich das Hörspiel zwischen zahlreichen Podcasts behaupten, die heute jeder Smartphonebesitzer mit einer guten Idee recht einfach selbst umsetzen und verbreiten kann. Doch: „Zwischen den beiden Formaten gibt es meiner Ansicht nach keine Konkurrenz“, sagt Martina Müller-Wallraf. Das Hörspielgenre, das in der ARD-Audiothek mit Abstand am häufigsten abgerufen werde, sei vielmehr die Erfindung des Podcasts mit erweiterten Möglichkeiten: „Dass viele Podcasts, vor allem in den USA, so einfach hergestellt wurden, ist oft aus der Not geboren. Es fehlten schlicht andere Ausspielungsmöglichkeiten“, sagt Müller-Wallraf.

Jury diskutiert öffentlich

Wie man mit diesen Möglichkeiten kreativ umgehen kann, zeigt das Festival anhand ausgewählter Beiträge. Insgesamt zwölf Stücke treten in diesem Jahr im Rennen um den Deutschen Hörspielpreis gegeneinander an. Wer am Ende siegt, diskutiert die Jury unter dem Vorsitz von Jenni Zylka öffentlich. Kriterien sind hohe technische Qualität, geschickte dialogische Ansätze, eine möglichst clevere Art und Weise, sich den Figuren zu nähern. Mehrere Wettbewerbsstücke versuchen Letzteres, indem sie einer realen Person fiktiv nahekommen. Bei „KL – Gespräch über die Unsterblichkeit“ zum Beispiel wagen sich der Autor John von Rüffel und die Regisseurin Christiane Ohaus an ein fiktives Porträt des verstorbenen Designers Karl Lagerfeld.

„Steve Jobs“ hingegen, ein Hörspiel von Alban Lefranc und Martin Zylka, imaginiert die letzten Worte des Apple-Gründers, der 2011 an Bauchspeicheldrüsenkrebs starb. Gerade hier wird die Macht des Auditiven eindrucksvoll deutlich. Immer wieder durchschneidet die kalte Maschinenstimme „Siri“ die Gedanken von Steve Jobs mit dem monotonen Satz „Sie haben Bauchspeicheldrüsenkrebs“ – und kreiert so eine Intensität, die Bilder vielleicht nie erreicht hätten.