Die Bedürftigen in der Stadt verdienen unser aller Aufmerksamkeit – auch jenseits von Weihnachten, findet Lokalchef Jan Sellner

Stadtleben/Stadtkultur: Jan Sellner (jse)

Stuttgart - Dieser Beitrag beginnt mit einem Schlussapplaus. Gerichtet ist er an die große Zahl von Leserinnen und Lesern, die in den vergangenen Wochen die Aktion Weihnachten, die Benefizaktion unserer Zeitung zugunsten sozialer Projekte und bedürftiger Menschen in Stuttgart und der Region, unterstützt haben. Jetzt, da die Gesamtabrechnung vorliegt, können wir Spenden in Höhe von 351 866 Euro vermelden – die zweithöchste Summe in der 47-jährigen Geschichte der Aktion Weihnachten; das Rekordergebnis vor drei Jahren lag nur geringfügig höher. Für die großzügige Hilfe danken wir am Ende der diesjährigen Sammlung allen Spendern herzlich – auch im Namen derjenigen, denen das Geld zugutekommt.

 

Oft sind das Menschen, die sich an den Rändern der Stadtgesellschaft bewegen. Verschämt und so unauffällig wie möglich. Die Anstrengungen, die sie unternehmen, sind nicht darauf angelegt, beruflich oder gesellschaftlich voranzukommen, sondern durchzukommen. Während viele Bürger heute vor dem Luxusproblem stehen, ihr immer voller werdendes Leben zu vereinfachen und zu entrümpeln, materiell wie terminlich, sehen sich andere – Bedürftige – existenziellen Fragen gegenüber. Bei ihnen geht es nicht um nice to have, sondern um Grundlegendes: Wie soll ich meine Miete bezahlen? Woher nehme ich das Geld für eine Waschmaschine oder eine neue Brille?

Viele Bedürftige leben unbeachtet

Für sie ist nicht wichtig, ob eine Mahlzeit „bio“, „vegan“ oder „ein Restaurant-Erlebnis“ ist, sondern dass es Essen gibt. Hauptsache bezahlbar. Ein Besuch in einem Stuttgarter Tafelladen zeigt, wie groß die Kluft ist zwischen dieser Welt der elementaren Bedürfnisse und der Event-Gesellschaft – was nicht heißt, dass den Armen keine Empathie entgegengebracht würde, ablesbar am großen Zuspruch, den die Aktion Weihnachten erfährt.

Empathie zu zeigen ist der Versuch, sich in andere hineinzuversetzen, in diesem Fall in die Situation von Menschen, von denen keiner Notiz nimmt – abgesehen von sozialen Einrichtungen und Behörden, die mit ihrem Fall befasst sind. Viele Bedürftige leben unbeachtet in einer Zeit, in der die Selbstdarstellung eine nie da gewesene Bedeutung hat. Dabei sind sie nicht weniger einmalig als Manager, Fußballstars oder sogenannte Influencer. Eigentlich eine selbstverständliche Erkenntnis: Jeder ist wer – unabhängig davon, was er geschaffen, erlebt hat oder besitzt. Jeder verdient Beachtung.

Anerkennung jedes Menschen

In dem jetzt verfilmten Buch „Wunder“ der US-Autorin Raquel J. Palacio formuliert der von Geburt an entstellte zehnjährige August die Maxime: „Jeder Mensch sollte zumindest einmal im Leben Ovationen im Stehen bekommen, denn wir alle überwinden die Welt.“

Die Anerkennung jedes Menschen als in die Welt gestelltes Individuum – das ist ein schöner Gedanke, auch im Hinblick auf jene, die materiell auf Hilfe angewiesen sind. Initiativen wie die Aktion Weihnachten versuchen, diesen Menschen eine Stimme zu geben. Und, wie beim berührenden Auftritt des Vesperkirchen-Chors bei der Nacht der Liederim Theaterhaus reichlich Applaus!

jan.sellner@stzn.de