Tanz oder stirb. Dieses Tattoo ziert den Nacken von Ahmad Joudeh. „Dance or Die“ heißt auch die Arte-Dokumentation über einen Tänzer, der dem Krieg in Syrien entkommt und ein neues Leben in Holland beginnt.

Stadtleben/Stadtkultur/Fildern : Andrea Kachelrieß (ak)

Stuttgart - Wie Fußball ist Ballett für viele Kinder in den Elendsvierteln der Welt ein Strohhalm. Das millionenfach geklickte Youtube-Video eines elfjährigen Jungen aus Nigeria, der mit Grand Jetés und Pirouetten dem Matsch trotzt, zeigt, was sie antreibt. Es ist nicht die Hoffnung, vom Slumdog zum Millionär zu werden. Es geht darum, wie man Haltung wahrt; wie man dem Chaos um einen herum mit der Disziplin und der klaren Ästhetik des Balletts etwas entgegensetzt – und ihm so entkommt.

 

Auch Ahmad Joudeh ist mit Hilfe des Balletts die Flucht gelungen. Raus aus dem Krieg in Syrien, rein in den Alltag des Het Nationale Ballets in Amsterdam. Sechs Stunden Flug trennen Welten. Wie kriegt man die beiden zusammen? Dieser Frage nähert sich der niederländische Filmemacher Roozbeh Kaboly in seiner einfühlsamen Dokumentation „Dance or Die“, deren Bilder und fein gezeichnete Stimmungen oft zu Tränen rühren. „Nicht weinen!“, sagt der Tänzer zur Mutter in Damaskus, als sie beim Videoanruf von ihrem Tag erzählt, und weint dann selbst. Ja, alles wie immer: Angriffe, Raketeneinschläge, Tote… Was er als Tänzer verdient, schickt er fast komplett nach Syrien. Jede Tasse Cappuccino in einem holländischen Café mache ihm, der ohne Angst vor Bomben sitzen und den Geist ausruhen lassen kann, ein schlechtes Gewissen.

Tanz zwischen Ruinen

Selbst hart gesottene Nachrichtengucker schlucken, wenn Ahmad Joudeh in den Ruinen der palästinensischen Flüchtlingssiedlung Yarmouk nach dem Haus sucht, in dem er aufgewachsen ist. Rostige Armiereisen ragen in den blauen Himmel, alle Gebäude sind zerbombt. So sieht ein Land aus, in dem seit fast zehn Jahren Krieg herrscht. Wie Ahmed Joudeh mit klarer Linie eine Pirouette in den Staub zeichnet, im Hintergrund eine Wand aus aufgetürmten Badewannen, ist ein Bild, das sich einbrennt.

„Jeder hat seinen eigenen Krieg. Meiner begann, als ich beschloss, Tänzer zu werden“, sagt Joudeh und erzählt, wie sich seine Familie von ihm abwandte, wie der Vater erst ihn schlug, dann die schwangere Mutter, die zum Sohn hielt und dann ihr Baby verlor. Die Ehe der Eltern zerbrach, und auch das Leben von Ahmad Joudeh war in Gefahr. Ein islamischer Tänzer? Damit kamen die IS-Kämpfer nicht klar und bedrohten ihn mit dem Tod. „Tanz oder stirb“ steht auf dem Tattoo, das sich Ahmad Joudeh hat in den Nacken stechen lassen. „Auf Hindi, denn die Inder haben einen Gott für den Tanz“, erklärt er im zerbombten Damaskus. „Hier starben viele Menschen. Ich tanze für ihre Seelen.“

Versöhnung nach elf Jahren

Dass der Tanz trotz der strengen Disziplin des Balletts für einen wie Ahmad Joudeh eine einzige, große Befreiung ist, zeigt die knapp einstündige Dokumentation in vielen anrührenden Szenen und mit Tänzen an beklemmenden Orten. Eine Zyste im Gehirn will der Tänzer nicht operieren lassen. „Lieber sterbe ich tanzend auf der Bühne als im Krankenbett“, sagt der von heftigen Kopfschmerzen Geplagte. Sehr private Einblicke wie die Versöhnung von Sohn und Vater nach elf Jahren in einem deutschen Flüchtlingslager zeigen, dass Joudeh und den Filmemacher eine lange gemeinsame Geschichte verbindet. Roozbeh Kaboly hatte mit einem Bericht über den Palästinenser, der eine arabische Dance-Casting-Show wegen seines Status als Flüchtling nicht gewinnen durfte, diesen in Holland bekannt gemacht. Ballettdirektor Ted Branson sammelte Geld für Joudeh, der von Amsterdam aus die Ballettwelt eroberte und heute mit Stars wie Roberto Bolle und Sting auftritt.

Arte, Sonntag, 3. Januar, 23.10 Uhr; 16. Januar, 2.15 Uhr: 17. Januar, 5.55 Uhr und in der Mediathek bis zum 3. April