Entwürdigende Rituale, sexuelle Übergriffe: der Aufschrei war groß, als die Ereignisse in der Pfullendorfer Kaserne ans Licht kamen. Heute stellen sich viele Dinge aber anders dar.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Pfullendorf/Sigmaringen - Dies ist das Kapitel einer Verteidigungsministerin, die Entschlossenheit im Handeln demonstrieren wollte – es aber einem verbreiteten Urteil der Truppe und der Justiz zufolge völlig übertrieben hat. „Abstoßend und widerwärtig“ hatte Ursula von der Leyen die „sadistischen Rituale bei der Kampfsanitäter-Ausbildung“ genannt, nachdem diese im Januar ans Tageslicht gelangt waren. Sie werde diese „mit aller Härte“ aufklären. Zielscheibe war das Ausbildungsbildungszentrum Spezielle Operationen in der Pfullendorfer Staufer-Kaserne (Kreis Sigmaringen), wo Spezialkräfte für die Erstversorgung von Verwundeten ausgebildet werden.

 

„99,9 Prozent der Soldaten“ in Pfullendorf habe der erste skandalisierende Bericht bei „Spiegel online“ „völlig unerwartet“ getroffen, heißt es heute am Standort. Öffentlich darüber reden mag bislang offenbar niemand. Schon während der ersten Empörungswelle hatte die Ministerin eine ganze Kaskade personeller Konsequenzen eingeleitet. Doch mittlerweile hat sich ein Teil der Vorwürfe gegen die beteiligten Soldaten als nichtig herausgestellt.

War das „Taufen“ Körperverletzung?

Juristisch geht es im Wesentlichen um zwei Komplexe: einerseits um den Vorwurf entwürdigender Aufnahmerituale, andererseits um den Verdacht sexuell-sadistisch motivierter Praktiken, die angeblich vor allem Soldatinnen über sich ergehen lassen mussten. Zum ersten Komplex laufen noch Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Hechingen gegen sieben Bundeswehrangehörige. Geprüft wird, ob während der „Taufen“ neuer Kameraden im Herbst 2016 und im Januar 2017 Straftaten wie Freiheitsberaubung, Körperverletzung und Nötigung begangen wurden. Soldaten sollen gefesselt und mit einem Beutel über dem Kopf im Duschraum abgespritzt worden sein.

Bis zu einer „verfahrensabschließenden Entscheidung kann es noch vier bis sechs Wochen dauern“, teilt der Sprecher der Staatsanwaltschaft mit. Ansonsten zeigt er sich zugeknöpft: Angaben zu Details der Vorwürfe seien „in diesem Fall nicht angezeigt“, sagt er – aus Sorge, dass diese „hinterher wieder mehr zur Verwirrung als zur Klarstellung führen“ und dass sich mancher Sachverhalt nach der Prüfung anders darstellt als gedacht. „Das Gesagte könnte sich wieder relativieren“, befürchtet der Staatsanwalt – eine Andeutung, dass im Zuge der Affäre manches Urteil vorschnell gefällt wurde. Schon zuvor hatte die Justiz dem Ministerium mehr oder weniger eine Mitschuld an einer verfehlten öffentlichen Wahrnehmung zugewiesen.

Kein Verdacht auf sexuelle Übergriffe

Vier der sieben Soldaten, allesamt Mannschaftsdienstgrade, klagen jetzt vor dem Verwaltungsgericht Sigmaringen gegen ihre vorzeitige Entlassung – zwei Soldaten auf Zeit sowie zwei Freiwillig Wehrdienstleistende (FWD). Den Klägern wird vorgeworfen, mit ihrem Verhalten ihre Dienstpflichten schuldhaft verletzt zu haben; ihr Verbleiben in der Bundeswehr würde „die militärische Ordnung und das Ansehen der Bundeswehr ernstlich gefährden“. Der Sprecher des Gerichts geht von einem zügigen Urteilsspruch noch am selben Tag aus.

Juristisch abgehakt ist der zweite Komplex zu den angeblich sexuell-sadistischen Praktiken. Die Staatsanwaltschaft Hechingen sah im Mai nach Durchsicht der Unterlagen der Bundeswehr „keinen Anfangsverdacht für ein strafbares Verhalten“, auch keine Verstöße gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Damit lief auch die Beschwerde eines weiblichen Leutnants über eine entwürdigende Ausbildung ins Leere: Belege? Gibt es wohl nicht. Ermittlungen der Bundeswehr ergaben das gleiche Bild.

Das Schamgefühl soll respektiert werden

Im sogenannten „Combat First Responder“-Lehrgang, den es in drei Stufen von fünf Tagen bis zu vier Monaten gibt, werden bewaffnete Rettungssanitäter ausgebildet, die mit Kampfsoldaten – meist Spezialeinheiten – in vordersten Linien agieren sollen. Dazu gehört ärztliches Fachwissen und das Absuchen eines Verwundeten am ganzen Körper, um scheinbar geringe, aber lebensbedrohliche Verletzungen festzustellen – sogar im Genitalbereich. Zur Simulation geeignete Puppen, so heißt es, kann die Bundeswehr nur anmieten, eigene hat sie nicht.

In 15 Jahren wurden Hunderte Soldaten auf diese Weise ausgebildet. Infolge der Affäre wurden nach einer Weisung des Ministeriums die Vorschriften präzisiert. Verlangt wird nun, dass beim Abtasten das Schamgefühl des Betroffenen respektiert werden soll. Die Untersuchung von primären und sekundären Geschlechtsorganen sowie des Analbereichs sei nur anzudeuten. Es dürfe keine Unterwäsche entkleidet, kein Tampon oder Thermometer rektal eingeführt werden. Ein entsprechendes Foto wurde in Pfullendorf sichergestellt – es könnte aber bis zu zehn Jahre alt sein.

Spitzenoffiziere sind empört über die Ministerin

Dienstrechtlich sei man „mit allem durch“, heißt es im Ausbildungsbildungszentrum Spezielle Operationen. Auch hier will man keine Einzelheiten nennen. Klar ist: Sieben Soldaten auf Führungsposten wurden versetzt – darunter Standortkommandeur Oberst Thomas Schmidt, der zum Ausbildungskommando des Heeres versetzt wurde und seinen Posten an Oberst Carsten Jahnel abgab. Öffentlich bezeichnete sich Schmidt als „Bauernopfer“ und attackierte die Ministerin.

Mehrere Spitzensoldaten hat Ursula von der Leyen im Zuge der Affäre abgelöst – offenbar ohne vorherige direkte Information. Auch den Chef des Ausbildungskommandos im Heer, Generalmajor Walter Spindler, traf ihr Bann. Er soll in Pfullendorf sowie im thüringischen Sondershausen nicht engagiert genug ermittelt haben. Offen kritisiert Spindler, der im badischen Müllheim lebt, dass er zuerst im Internet von der Entscheidung gelesen hätte. „Würdelos und stillos“ sei dies gewesen. Er erhielt viel Rückhalt – auch vom Bundeswehrverband: Es würden „reihenweise Soldaten in ihrer Ehre verletzt“, rügte dessen Sprecher Jan Meyer. „Komisch nur, dass dieser Umstand in unserer Gesellschaft, die sich sonst so schnell aufregt, nicht als Skandal wahrgenommen wird.“ Dies sei die „Methode von der Leyen“: „laute Empörung, größtmögliche Distanzierung und maximaler Aktionismus“. Die Verletzungen bei den Menschen der Bundeswehr seien „unabsehbar“.