Hunderte sind ruiniert, 1500 Plünderer, die meisten unter 18 Jahre alt, bestraft  - England zieht die Bilanz dieser unfassbaren Woche.

Korrespondenten: Peter Nonnenmacher (non)

London - Giselle Asante steht vor dem Nichts. Zwanzig Jahre lang führte sie das Familiengeschäft, den Schneider- und Kleiderladen an der Peckham High Street Londons Süden, bis es diese Woche von einer Horde Jugendlicher geplündert wurde. Sie sei "vollkommen am Ende", erklärt die 57-Jährige. Ihre geraubte Ware sei unersetzbar: "Wir haben sie schließlich mit unseren eigenen Händen gemacht."

 

Wie Giselle Asante stehen viele Händler vor den Trümmern ihrer Existenz. Vier Nächte ungezügelter Straßenkrawalle haben Schäden von Hunderten von Millionen Euro angerichtet. Ob die oft unversicherten Betroffenen sich von Polizei und Staat Entschädigung erwarten können, wie es Premierminister David Cameron versprochen hat, ist ihnen selbst einstweilen unklar.

Zwei Weltkriege hat das Traditionsgeschäft überstanden

Die berühmteste Ruine der Krawalle, das abgebrannte Möbelgeschäft House of Reeves, kann man in Croydon besichtigen, südlich der Themse. 144 Jahre alt war das Geschäft, als Brandstifter es am Montag in Schutt und Asche legten. "Wenn wir ein Computershop gewesen wären, wären die Leute wohl eingedrungen, hätten sich die Ware geschnappt und wären abgezogen", sagt der Besitzer Trevor Reeves. "Aber man kann nicht gut eine dreiteilige Sitzgarnitur durchs Zentrum von Croydon schleppen, oder?" So seien die "Wilden" eben darauf verfallen, das Gebäude abzufackeln. Zwei Weltkriege hat das Traditionsgeschäft überstanden. Er habe "keine Ahnung", ob er noch mal neu anfangen könne, sagt Reeves.

Viele der Beraubten, für die Polizei und Feuerwehr zu spät kamen, haben die vergangenen Nächte als einen einzigen Albtraum erlebt. Einige der Händler, die sich der Meute entgegenstellten, wurden mit Flaschen geschlagen, mit Messern bedroht. Taxifahrer fanden ihre Wagen plötzlich in einem Backsteinhagel. Polizisten mussten vor jeder Art von Geschossen in Deckung gehen. Nur wenige wagten sich der Welle der Gewalt entgegenzustellen: Die karibisch-stämmige Jazzsängerin Pauline Pearce verteidigte in ihrer Straße in Hackney inmitten flammender Autos eine Ladenbesitzerin mit ihrem Stock. Die 45-Jährige schlug mit lautstarken Beschimpfungen eine ganze Horde vermummter Jugendlicher in die Flucht.

Die Polin Monika Konczyk entkam knapp dem Tod

Dinnergäste in einem Michelin-besternten Restaurant in Notting Hill krochen, als die Krawallbrigade anrückte, unter die Tische und suchten sich in Panik ihre Juwelen in die Unterwäsche zu stopfen. Den meisten wurden Ringe, Geldbeutel und Kreditkarten abverlangt, einigen Frauen Ketten vom Hals gerissen. Die Plünderer hätten "Macheten und Schlagstöcke mit sich geführt", erzählten Augenzeugen.

Andere, weniger Betuchte, hatten Glück, das nackte Leben zu retten. Die jüngst erst nach London gekommene Polin Monika Konczyk, die im Billigladen Poundland in Croydon ihren Lebensunterhalt verdient, entkam knapp dem Tod, als eine randalierende Gruppe das Haus, in dem sie im Obergeschoss wohnte, in Brand steckte - ihr Sprung aus dem Fenster wurde zu einem der bekanntesten Bilder der Unruhen.

Drei junge Männer wurden von einem Wagen überfahren

Ebenfalls zu unfreiwilliger Prominenz gelangte ein malaysischer Student, dem in Barking, Ostlondon, das Fahrrad gestohlen und die Kinnlade gebrochen wurde. Der 20-jährige Asyraf Haziq rappelte sich, wie ein inzwischen berühmtes Youtube-Video zeigt, mühsam wieder auf: Die ihm aufhalfen, benutzten die Gelegenheit, sich aus dem Rucksack des Verwundeten weiter zu bedienen. Haziq hat seither seine "Trauer" darüber bekundet, dass "so junge Leute, geradezu Kinder", unter seinen räuberischen Angreifern waren. Trotz allem wolle er weiter in London studieren.

Noch schwerer als ihm muss es zwei südasiatischen Familien in Birmingham fallen, mit den fatalen Ergebnissen der Attacken dieser Woche fertig zu werden. Drei junge Männer, zwei davon Brüder, waren von einem Wagen überfahren und getötet worden, als sie zusammen mit 80 anderen Ortsansässigen vor ihren Geschäften "Wache schoben", um die Ladenzeile gegen einen möglichen Überfall zu verteidigen. Tariq Jahan, der Vater eines der Opfer, warf bei einer Mahnveranstaltung am Tatort in der Nacht auf Freitag der Polizei vor, nicht entschlossen genug zum Schutz seiner Gemeinde angerückt zu sein, als es darauf ankam. Sein Sohn Haroon, sagte Jahan, "könnte noch am Leben sein", wenn der Staat eher Beistand geleistet hätte.

Insgesamt sind mehr als 1500 Personen verhaftet worden

Dennoch appellierte Jahan mehrfach an Moslems und Sikhs in Birmingham, sich auf keine Racheaktionen einzulassen. Die Appelle waren von entscheidender Bedeutung im Verlauf der Krawalle. Ohne sie hätten die Unruhen ohne Weiteres in einen Rassenkonflikt umschlagen können. Die Insassen des Täterautos waren nämlich, nach Augenzeugenberichten, afrikanisch- oder karibischstämmig. Zwischen schwarzen und asiatischen Jugendlichen in Birmingham tobt seit Langem ein stummer Krieg. Inzwischen soll einer der Insassen gefasst worden sein.

Insgesamt sind mehr als 1500 Personen verhaftet worden. Auch am Wochenende werden die Gerichte vor allem in London durcharbeiten. Mehr als die Hälfte der Verhafteten sind wohl jünger als 18 Jahre, einige zehn oder elf Jahre alt. Viele haben sich sehr viel banalerer Dinge als gezielter Gewalt schuldig gemacht: Sie sind mit dem seltsamsten Diebesgut erwischt worden - was sie vor harten Strafen in der gegenwärtigen Stimmung in Großbritannien nicht bewahrt.

Die Strafen sind schwerer als sonst

Ein 11-Jähriger aus Romford zum Beispiel wurde dafür bestraft, aus einem geplünderten Geschäft einen Abfalleimer entwendet zu haben. Eine Gleichaltrige aus Nottingham erhielt neun Monate "Jugendüberwachung", weil sie mit anderen zusammen die Scheiben eines Kleiderladens eingeschlagen hatte. Sie war, erklärte sie vor Gericht, sicher gewesen, "dass ich nicht erwischt werde".

Wer sich am kriminellen Aufruhr dieser Woche beteiligt habe, müsse schwerere Strafen erwarten, als sie sonst fällig wären, erklärten am Donnerstag und Freitag immer wieder englische Richter. Zu sechs Monaten Haft verurteilt wurde so ein 23-jähriger Student namens Nicholas Robinson, der sich aus einem Lidl-Laden in Brixton eine Flasche Wasser im Wert von 3,50 Pfund geholte hatte, weil er "gerade durstig war". Eoin Flanagan, ein 18-Jähriger aus Manchester, gestand, dass er sich zwei Pullover und zwei Musikinstrumente unter den Nagel gerissen hatte. Er bekam neun Monate Gefängnis.

Englands Buchhandlungen blieben gänzlich verschont

Begründen konnten die wenigstens, warum sie sich an den Krawallen beteiligt hatten. Einige wollten es nur "der Polizei mal zeigen". Andere ließen sich offenkundig mitziehen. An den Brennpunkten früherer Gang-Auseinandersetzungen, besonders in Südlondon, hatten offenbar ganze Gruppen männlicher Teenager die Unruhen mit angefacht. Anderswo nutzten auch Mädchen und junge Frauen die Gelegenheit zum Stehlen.

Modische Kleider und elektronische Statussymbole waren bei den Krawallen vor allem gefragt: Teure Tennisschuhe, Mobiltelefone, Laptops, natürlich auch Alkohol und Zigaretten. Dagegen musste sich die Kette Waterstones keine Sorgen machen: Englands Buchhandlungen blieben von Plünderern gänzlich verschont.

Soziale Zustände als Ursache

Premier David Cameron beklagte das Versagen der Eltern. Nur eine feste moralische Hand könne dem "kriminellen Wesen" wehren. Andere betonen die sozialen Zustände als Ursache: eine Gesellschaft, die einen Teil der Bevölkerung in den "vergessenen Vierteln" praktisch abgeschrieben hat. "Genau das passiert, wenn Leute nichts besitzen, wenn sie das Zeug, das sie sich nicht leisten können, ständig vor die Nase gehalten bekommen, und wenn sie schlicht nicht für möglich halten, dass sie sich diese Dinge jemals werden erlauben können", beschreibt es die "Guardian"-Kommentatorin Zoe Williams.

Williams Kollege Seamus Milne geht einen Schritt weiter. Für ihn sind die Unruhen "eine Reflexion einer von Neid getriebenen Gesellschaft" in England, die immer mehr soziale Solidarität verliere: "Während unsere Banker den Wohlstand im Lande in aller Öffentlichkeit und gänzlich ungestraft geplündert haben, kann man ja wohl nachvollziehen, warum die Leute, die vom großen Geld nur träumen können, auf die Idee kommen, es stehe ihnen zu, sich mal ein Handy zu verschaffen."