Der russische Friedensnobelpreisträger und ehemalige sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow ist tot. 1989 ist er mit seiner Frau Raissa in Stuttgart zu Besuch gewesen und hat die Menschen begeistert.

Der letzte Staatspräsident der Sowjetunion und Friedensnobelpreisträger Michail Gorbatschow ist im Alter von 91 Jahren gestorben. Er gilt als einer der Väter der deutschen Wiedervereinigung. 1989 ist er in Stuttgart zu Besuch gewesen und ist von den Menschen enthusiastisch gefeiert worden. Anlässlich seines Todes erinnern wir mit einer Originalreportage an den Besuch:

 

Fast sechs Stunden hat gestern der Stuttgart-Besuch des Staatspräsidenten der UdSSR, Michail Gorbatschow, gedauert. Er wurde von Tausenden von Stuttgartern auf dem Schloßplatz empfangen. Tausende säumten auch die Straßen, die die lange Wagenkolonne in die Innenstadt und nach Vaihingen befuhr. In herzlicher Atmosphäre verlief nicht nur das Gespräch zwischen dem Generalsekretär und Ministerpräsident Lothar Späth im Neuen Schloß - Gorbatschow und seine Frau Raissa suchten immer wieder den Kontakt zu den jubelnden Menschen. Am späten Nachmittag flog die sowjetische Delegation wieder nach Bonn zurück, fast zwei Stunden später als geplant.

Gestern früh auf dem Echterdinger Flughafen: Hunderte von Menschen wuseln durcheinander, alles deutet auf ein großes Ereignis hin. Eine breite, dreistufige Tribüne für Journalisten, Podeste für Fernsehkameras, Gangways für Fotoreporter. Dutzende von dunklen großen Mercedes-Wagen warten, überall Polizisten, Beamte von Spezialeinheiten sind in Bereitschaft. Auch an den Straßen zum Flughafen jede Menge Polizeibeamte: Sie schau in Gebüsche und unter Leitplanken. Gegen 10 Uhr sammeln sich die neun Trachtengruppen aus dem ganzen Land: Die Siedertanzgruppe aus Schwäbisch Hall, die Schäferlauf-Tanzgruppe aus Markgröningen, Gruppen aus Biberach, Ravensburg, Weingarten und Überlingen, aber auch aus dem Schwarzwald - leicht zu erkennen an den großen schwarz-roten Bollenhüten der Frauen. Männer mit breiten Schärpen, mit Dreispitzhüten, Frauen mit Goldhauben, mit der „Scheppel“ genannten Perlenkrone. Sie stellen sich links und rechts des Roten Teppichs auf.

Große Iljuschin taucht am Himmel über den Fildern auf

Dann ist es soweit: Um 11.20 Uhr taucht die große lljuschin 62 am diesigen Himmel über den Fildern auf - schon geraume Zeit zuvor ist keine andere Maschine mehr gelandet oder gestartet. Staub wirbelt auf, als der Jet aufsetzt. Fünf Minuten nach der Landung ist die Maschine der Aeroflot mit dem Kennzeichen „CCCP 86540“ genau am Roten Teppich ausgerollt, zwei Treppen fahren noch ein Stückchen heran, die Tür geht auf. Michail Gorbatschow erscheint als erster, winkt, dann seine Frau und weitere Mitglieder der Delegation. Sie gehen die Gangway hinunter, wo Ministerpräsident Lothar Späth am Roten Teppich schon wartet. Kurze Begrüßungsworte, die Trachtenträger applaudieren.

Dann geht man gemessenen Schrittes wenige Meter nach vorn - und dabei sorgt Raissa Gorbatschowa für die erste - und nicht die letzte - Überraschung dieses Tages: Sie bleibt stehen und winkt einer der Trachtenfamilien aus dem Schwarzwald zu. Vater Alfred Speck reagiert ebenso spontan: „Gib der Frau Gorbatschow dei’ Blumakörble!“ bittet er die dreijährige Tochter Miriam. Die macht schüchterne Schritte nach vorn, drückt der sympathischen Russin das Körble in die Hand und flüchtet gleich wieder verschämt an Mutters Rock. Alles freut sich über diese Geste - Zeichen des freundlichen Klimas.

Protokollbeamte kommen ganz schön ins Schwitzen

Noch wenige Schritte bis ans Ende des Roten Teppichs - und, als sei es abgesprochen, ordnen Späth und Gorbatschow gleichzeitig mit einer Handbewegung die vom Wind zerzausten Haare. Dann spielen die Polizeimusiker die sowjetische und die deutsche Nationalhymne, ununterbrochen klicken die Kameras der vielen Dutzend Fotografen. Die Daimler und SIL fahren vor, an der Spitze der Wagen mit der sowjetischen Standarte auf dem rechten Kotflügel. Flughafenangestellte, Techniker und Monteure stehen Spalier an der Ausfahrt, als sich der Konvoi in Richtung Stadtmitte in Bewegung setzt. „Tschüß Gorbi“, ruft einer. Bis zum Nachmittag.

Schon während der Abfahrt deutet sich an, was die Protokollbeamten im Lauf des Tages ganz schön ins Schwitzen bringen wird: Alles dauert länger als vorgesehen. Die Fahrt in die Stadt hinunter verläuft reibungslos, viele Fahnen säumen die Strecke. An der Seite des Neuen Schlosses läßt Gorbatschow stoppen, geht die restliche Strecke zu Fuß, begrüßt Dutzende von Stuttgartern. Dann der Empfang im Marmorsaal, das Gespräch mit Späth, anschließend Mittagessen. Von dort geht’s nach Vaihingen zur Universität- die Verspätung beträgt schon eine gute Stunde. Schließlich ist man fast zwei Stunden hinter dem Zeitplan, als der Staatsbesuch aus Rußland gegen 17 Uhr wieder am Flughafen eintrifft. Auch dort noch einmal der Kontakt zu den Schwaben: Gorbatschow und seine Frau sprechen die Trachtenträger an, keine Hetze, keine Aufgeregtheit. Der Abschied von Späth ist noch herzlicher als die Ankunft am Morgen. Um 17.15 Uhr dann das letzte Winken von der Gangway.

„Keine besonderen Vorkommnisse“, meldet die Polizei. Auch das Rote Kreuz, das mit 82 Leuten und 34 Wagen für die Staatsbesucher und die Bevölkerung in Bereitschaft war, berichtet nichts Schlimmes: Fünf Leute mußten mit einem Kreislaufkollaps ins Krankenhaus.

Anmerkung der Redaktion: Es handelt sich um einen ungekürzten Bericht aus der Stuttgarter Zeitung vom 15. Juni 1989. Angereichert ist der Artikel mit Fotos vom Staatsbesuch, die nicht im Zusammenhang mit dem Bericht erschienen sind. Die Rechtschreibung ist weitgehend im Original belassen.