Zum 75-Jahr-Jubiläum der Stuttgarter Zeitung stöbern wir im Archiv und präsentieren unseren Leser die originale Berichterstattung früherer Zeiten. Dieses Mal: Das Spiel der deutschen Nationalelf gegen Portugal während der Fußball-WM 2006.

Stuttgart - Zwei Stunden nach dem Abpfiff des Spiels um Platz drei rollen die Fans schräg gegenüber vom Hauptbahnhof den roten Teppich für die deutsche Mannschaft aus. In Zehnerreihen warten die Anhänger auf den Bus, mit dem Jürgen Klinsmann und seine Boygroup gleich vor den Hoteleingang fahren werden. Dann endlich, nach stundenlangem Warten, werfen die Scheinwerfer der Kamerateams grelles Licht über den Arnulf-Klett-Platz. Hunderte von Polizisten versuchen, die nach vorne drückende Menschenmenge zu bändigen: Um 0.56 Uhr biegt der Bus mit dem Aufdruck „Für Deutschland - durch Deutschland“ von der Heilbronner Straße ein. Und wie von einem Magneten angezogen, brechen dutzende von Fans durch die Absperrungen der Polizei, um einmal den Bus zu berühren, in dem Jürgen Klinsmann neben dem Fahrer wie ein Derwisch tanzt.

 

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Dieser Tag gehört Stuttgart. Nicht auf Berlin, nicht auf Dortmund oder München richten sich an diesem Samstag die Kameras aus aller Welt - Millionen von Zuschauern sehen am Tag des kleinen Finales beinahe ausschließlich Bilder vom Schlossplatz, von der Königstraße und vom Stuttgarter Hauptbahnhof. Und es scheint so, als hätte die Stadt nur darauf gewartet, nicht eine von zwölf WM-Städten zu sein, sondern eben die, welche am Ende allein im Mittelpunkt steht.

Die Fans kreischen wie bei einem Popkonzert

Stuttgart wirft sich in dieser Nacht der Mannschaft hemmungslos an den Hals. Dabei gehen auch beim ZDF, das von 13 Uhr an ununterbrochen aus der Stadt berichtet, die Klischees in die Brüche. Zu Beginn der Übertragung schwadroniert der Moderator über „Schaffe, schaffe, Häusle baue“ - doch nach wenigen Minuten gibt Michael Steinbrecher, der die deutsche Mannschaft während der WM begleitet hat, zu: „Nirgendwo war der Empfang so toll wie in Stuttgart.“ An diesem Tag ist Stuttgart wirklich nicht besenrein - überall Bierflaschen und schwarz-rot-goldene Fanartikel. Stuttgart ist nicht leise - die Fans kreischen wie bei einem Popkonzert. Stuttgart ist nicht geizig - vor dem Spiel reißen die Leute in den Kaufhäusern noch einmal Trikots für 65 Euro von den Bügeln.

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Als der Bus mit den Siegern des kleinen Finales vor dem Hotel Graf Zeppelin hält, verstopft die jubelnde Menge aus 20 000 Menschen sechs Fahrspuren. Mädchen mit aufgemalten Herzen sind auf Bushäuschen geklettert. Eine Gruppe Kölner Fans hüpft in einem Blumenkübel auf und ab. Und immer wieder singen die Anhänger „So sehen Sieger aus“. Damit meinen sie die Mannschaft, vor allem aber sich selbst. In diesem Moment verwandelt sich die kalte Fassade des Hotels in eine Projektionsfläche für Sehnsüchte.

Schwarzafrikaner malen sich Deutschlandfarben ins Gesicht

Viele sind erst in den vergangenen vier Wochen zu Anhängern einer Mannschaft geworden, die offensiv spielt und nicht verzagt; zu Anhängern eines Trainers, der den Glauben vermittelt, dass sich mit der richtigen Einstellung Berge versetzen lassen. An diesem letzten WM-Wochenende feiern die Menschen vor dem Mannschaftshotel noch einmal dieses neue Lebensgefühl. Als Frings, Schweinsteiger und Co. im ersten Stock des Hotels die Fenster aufreißen, läuft ein Beben durch die Menge: „Das hier werde ich nie vergessen“, sagt ein Vater, dessen Tochter verschüchtert auf seinen Schultern sitzt.

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Nach den Spielen gegen Argentinien und Italien hätte wohl niemand eine Steigerung der Stimmung auf dem Schlossplatz für möglich gehalten. Und doch stellt die Feier am Samstag alles bisher in Stuttgart Gesehene in den Schatten. Da die deutsche Elf in Stuttgart spielt und alle ein großes WM-Abschiedsfest feiern wollen, herrscht eine noch beschwingtere Stimmung in der Landeshauptstadt als zuvor. Auf dem Weindorf hat sich eine frisch verheiratete Französin zum Spaß ein Schild um den Hals gehängt: „Küss mich - 2 Euro.“ Der Andrang ist groß. In Stuttgart lebende Schwarzafrikaner haben sich die Deutschlandfarben ins Gesicht gemalt. Die vielen Frauen verleihen den früher recht groben Männerfußballfesten eine zivilisierte Note.

100.000 Fans strömen in die Stuttgarter Innenstadt

Und noch einmal zeigen viele Fans ihre ganze Kreativität. Der Stuttgarter Andreas Jäschke lädt alle Fans ein, ihre Eindrücke von der Weltmeisterschaft auf einen Zettel zu schreiben und in seine Tonne zu werfen - er will Deutschlands größtes WM-Tagebuch erstellen. Das schönste Fanauto am Samstag ist schwarz-rot-gold lackiert und hat ein echtes Spielfeld auf dem Dach.

Bereits seit dem Nachmittag strömen 100.000 Fans in die Innenstadt, sodass das Fest knapp drei Stunden vor Anpfiff geschlossen wird, so früh wie noch nie. Vor dem Königsbau ist kein Durchkommen mehr, so gut wie jeder Fernseher ist belagert, und viele Fans sind so aufgedreht, als ginge es doch noch um den WM-Titel. Nach dem Spiel drängen nochmals zehntausende aus dem Stadion in die City. Alle genießen ein letztes Mal den Sommer, den Fußball, die große Party. Die leise Wehmut darüber, dass alles nun vorüber ist, verleiht der Feier ein feines Champagnerprickeln.

Eine Mischung zwischen Volksfest und Hexenkessel

Den Menschen auf dem Schlossplatz fällt es allerdings auch am Samstag schwer, das Besondere ihrer Gefühle zu beschreiben: Sie finden Wörter wie Stadionatmosphäre, Volksfeststimmung und Hexenkessel, und sie vergleichen den Abend mit dem Karneval, mit Silvester und dem Nationalfeiertag - denn der Tag bietet von allem ein bisschen und viel mehr. Die beiden jungen Stuttgarterinnen Sandra Bass und Kerstin Wille haben spontan ein Plakat gebastelt und bedanken sich bei „Poldi“ und „Schweini“ für die „geilste WM aller Zeiten“. Die Sätze sprudeln nur so heraus, bis Sandra Bass am Ende sagt: „Jetzt heul ich gleich.“ So nah am Wasser gebaut und so nah bei sich selbst sind am Samstag viele Fans gewesen.

Für dieses Überschwappen der schönen Gefühle, für dieses benebelnde Gefühl des Einsseins mit anderen Menschen sind der Fußball und die deutsche Mannschaft nur Katalysatoren. Dahinter steht die Begeisterung darüber, dass eine unglaubliche Vision für kurze Zeit Wirklichkeit geworden ist: die Vision eines friedlichen und freundschaftlichen Miteinanders der Menschen in aller Welt. Es ist dies eine Welt, in der Polizisten und Fußballfans miteinander schunkeln, in der kroatische und türkische Mitbürger ganz selbstverständlich die deutsche Fahne schwenken, in der sich wildfremde Menschen in den Armen liegen, in der Schweizer und Franzosen Stuttgart zur momentan schönsten Stadt der Welt erklären und in der die Bundeskanzlerin am Ende des Spiels im Daimlerstadion den Bäckerssohn aus Botnang in die Arme nimmt und küsst.

Die Stadt schwelgt in Dankbarkeit

Im Stadion geht nach dem Spiel um Platz drei das Licht aus, und ein Feuerwerk erhellt die beseelten Gesichter von 50 000 Fans - selbst die Portugiesen sind so bewegt, dass sie bis zum Schluss bleiben. Und auf dem Schlossplatz sorgt der Schlagerbarde Dieter Thomas Kuhn für Wunderkerzenzeit: Die Menschen tanzen Sirtaki und Polonaise, und spätestens beim Lied „Fremde oder Freunde?“ wird es manch einem so warm ums Herz, dass der Schlossplatz von Feuerzeugen erleuchtet wird und jeder die Nähe eines Freundes sucht.

Und die Stadt schwelgt in Dankbarkeit, dass sie die Bühne für das letzte Flowerpower-Fest sein darf. Die Party hält die ganze Nacht über an. Etwa 700 Fans harren bis zum Sonntagmorgen vor dem Hotel aus, und sie werden belohnt: Spieler der deutschen Mannschaft schreiben Autogramme, bevor sie zum Flughafen aufbrechen. Am Sonntagmittag zeigen sich Klinsmann und Co auf der Berliner Fanmeile der Menge. Dabei wissen mittlerweile doch selbst Torsten Frings und Michael Ballack: Stuttgart ist viel schöner als Berlin.

Anmerkung der Redaktion: Es handelt sich um einen ungekürzten Bericht aus Stuttgarter Zeitung vom 10. Juli 2006. Angereichert ist der Artikel Fotos aus der Zeit der Fußball-WM in Stuttgart, die nicht unbedingt im Zusammenhang mit dem Bericht erschienen sind.