Ursula von der Leyen lobt bei Anne Will die Ukraine als Vorbild für andere EU-Länder. Aus Kiew mahnt Außenminister Kuleba: Ohne rasche Waffenlieferung werden viele sterben.

Gleich zweimal stellte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei Anne Will am Sonntagabend in der ARD fest, dass sich viele EU-Mitglieder von der Ukraine „eine Scheibe abschneiden könnten“. Ein etwas unglückliches Bild angesichts der Tatsache, dass sich Russland gerade Teile des Landes einverleibt, aber von der Leyen – zugeschaltet aus Brüssel – hatte die „gute Digitalisierung“ der Ukraine gemeint sowie das niedrige Staatsdefizit und die geringe Staatsverschuldung von nur 50 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, die das Land zumindest vor dem Krieg hatte.

 

Die Kriegsmaschine „fräst“ sich durchs Land

Die Frage nach dem EU-Kandidatenstatus – über den der EU-Ministerrat am Donnerstag entscheiden wird – war in der Talkrunde interessant, doch wurde bald abgelöst vom Thema schwere Waffen. Denn während ein Beitrittsprozess sicher zehn Jahre dauern würde – da war sich die Runde der Studiogäste einig – brennt in der Ukraine die Luft: „Die russische Kriegsmaschinerie fräst sich durch dieses Land“, bemerkte der CDU-Außenpolitiker Johann Wadepuhl.

Kampf gegen Oligarchen als Hausaufgabe

Bevor es aber um Geschossgrößen geht, noch ein Blick auf die Frage, ob denn beim EU-Kandidatenstatus, den die Kommission für die Ukraine will, wirklich die „moralische Pflicht“ (von der Leyen) eine Rolle spielen dürfe. Nein, sagte von der Leyen, es gehe darum bestimmte Kriterien zu erfüllen, so sei eine wirtschaftliche Bedingung beispielsweise, dass die Wirtschaft des Kandidaten dem Wettbewerbsdruck der EU stand halte. Der Ukraine attestierte von der Leyen, sie habe enorme Schritte nach vorne getan, sie sei eine „robuste Demokratie“ geworden und sei dabei, ihre Hausaufgaben zu machen, etwa den Kampf gegen die Korruption und die Macht der Oligarchen zu führen.

Vergleich von Türkei und Slowakei

„Es liegt in der Hand eines jeden Kandidaten, wie schnell der Beitrittsprozess geht“, meinte die Kommissionspräsidentin. Die Türkei und die Slowakei hätten beide 1999 die europäische Perspektive erhalten, die Slowakei sei bereits 2004 EU-Mitglied geworden, die Türkei sei heute von der EU „weiter entfernt als vorher.“ Auch Studiogäste wie die Politikwissenschaftlerin Claudia Major attestierten von der Leyen, dass sie am „regelkonformen Prozess“ für einen Beitritt der Ukraine festhalte. Aber ein Nebensatz der Kommissionschefin deutete an, dass Politik in der Statusfrage natürlich auch eine Rolle spielte: „Es war wichtig, der Ukraine den Rücken zu stärken.“

Lob für die klare Botschaft der EU

Für den aus Kiew zugeschalteten ukrainischen Außenminister Dmytro Kuleba war das auch entscheidend: „Das war eine klare und einfache Botschaft der Europäer: Die Ukraine ist einer von uns!“

Das Bild vom Musterland hat Risse

Eher Wasser in den Wein der Ukraine-Euphorie schüttete der Journalist Christoph Schwennicke. Die Politik dürfe nicht moralüberladen sein, sondern müssen pragmatisch entscheiden. „Die Ukraine hat eine starke Affinität zur EU, das macht sie aber nicht zum Musterland.“ Auf der Korruptionsliste von Transparency International sei Bulgarien als „letztes“ EU-Land im Ranking auf Platz 78, die Ukraine aber liege auf Platz 122 und damit nicht weit von Russland entfernt.

Auch Richter müssen an die Front

Ob die Korruptionsbekämpfung im Krieg überhaupt stattfinden kann, ist nicht erörtert worden, allerdings gab von der Leyen den Hinweis, dass ein Kriterium der Rechtsstaatlichkeit – die Einstellung von mehr Richtern – gerade nicht erfüllt werden könne, da auch Richter an die Front müssten. Das war ein Stichwort für Außenminister Kuleba, dem recht diplomatisch kein Wort der Kritik an Kanzler Olaf Scholz über die Lippen kam, obwohl der bei seinem Kiew-Besuch keine Waffen zugesagt hatte. Man habe offene, aber auch „diskrete Diskussionen“ mit Scholz geführt und er sei „sehr entgegen kommend beim Waffensystem IRIS gewesen“, sagte Kuleba. Er kenne auch die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands nicht und wisse nicht, ob die Bundeswehr etwas abgeben könne.

Jetzt läuft ein Artilleriekrieg

Ohne einen Adressaten zu nennen fand Kuelba dann aber deutliche Worte: Wer glaube, man könne Zeit kaufen und Waffen spät liefern, damit die Ukraine zu Zugeständnissen bereit sei, der irre sich: „Wenn wir keine Waffen erhalten, dann werden wir mit Schaufeln kämpfen. In diesem Krieg geht es um unsere Existenz.“ Werde man die Waffen spät erhalten, werde man auch „Danke sagen“, aber je später sie kämen, desto mehr Tote werde es auf ukrainischer Seite geben: Man brauche jetzt dringend 155-Millimeter-Artillerie-Geschütze sowie Luftabwehrraketensysteme. „Das ist jetzt ein Artilleriekrieg.“ Der Wunsch nach Panzer stehe auf der ukrainischen Liste derzeit erst auf Platz fünf. Aber die Unterlegenheit seines Landes bei Artilleriegeschützen – 1:15 gegenüber Russland – sei deutlich.

Russland mache die Ukraine „platt“, sagt die Expertin

Unterstützt wurde Kulebas Analyse von Claudia Major: „Russland macht die Ukraine platt und zerstört alles. Es ist die Frage, wie lange die Ukrainer das aushalten können.“ Es müsse im Interesse des Westens sein, dem Land jetzt die Waffen zu liefern, die es brauche. Hingewiesen wurde auf das Beispiel Polens, das aus eigenen Beständen nach Absprache mit der Nato T-72 Panzer russischer Bauart an die Ukraine geliefert hatte.

Zweifel an eingespielter Statistik

Der CDU-Mann Wadepuhl stieß ins gleiche Horn. Eine in der Sendung eingespielte Statistik über die angeblich schwache Bilanz der deutschen Waffenlieferungen im internationalen Vergleich ist inhaltlich von den Studiogästen Schwennicke und Michael Müller (SPD) zwar zerpflückt worden, trotzdem kritisierte Wadepuhl die Bundesregierung: „Deutschland muss etwas tun. Wir hatten erwartet, dass Kanzler Scholz in Kiew die Lieferung von schweren Waffen ankündigt.“ Nichts sei geschehen. Marder stünden bereit bei Rheinmetall, aber sie würden nicht ausgeliefert. Dieser Krieg dauere nun schon vier Monate, vor zwei Monaten habe der Bundestag die Regierung aufgefordert, schwere Waffen zu liefern – aber nichts passiere.

Schwere Waffen liegen nicht im Regal

Der Ex-Bürgermeister von Berlin, Michael Müller, jetzt Mitglied im Auswärtigen Ausschuss des Bundestages, konterte, man könne bei den schweren Waffen ja „nicht einfach ins Regal greifen“. Von 100 Marder-Panzern, die von der Bundeswehr ausgemustert waren, seien gerade mal fünf oder sechs jetzt für einen Einsatz aufbereitet worden, auch müsse die Schulung auf den Fahrzeugen noch stattfinden. Und was eine Lieferung aus Beständen der Bundeswehr anbelangte, sagte der SPD-Politiker: „Auch der Bundeswehr stehen manche Dinge gar nicht zur Verfügung.“ Dass wisse doch auch die CDU, sonst hätte sie ja wohl nicht für das 100 Milliarden Euro teure Ausrüstungsprogramm für die Streitkräfte gestimmt.