Der äthiopische Künstler Tesfaye Urgessa irritiert die Besucher im Galerieverein mit hoch emotionaler Körpersprache.

Leonberg - Wer in die Ausstellung „No Country for Young Men“ mit Arbeiten von Tesfaye Urgessa in den Galerieverein kommt, muss sich darauf gefasst machen, dass seine gewohnte Weltsicht bewusst sabotiert wird. Die großformatigen Ölbilder sind dabei gar nicht mal abstrakt, sondern figürlich, aber die nackten Körper ohne modisches Styling sind fragmentiert in Arme, Beine, Schädel – manchmal surreal verrenkt, dass es wehtut.

 

Da gibt es Rückansichten von Menschen, schreckgeweitete Augen mit verbundenem Mund, einen Tisch mit Schädeln, einen Arm mit geballter Faust in einem gläsernen Kubus, dann wieder zersplitterte Porträts, wie zerhackt und falsch wieder zusammenmontiert. Oder ein Mann in Suizid-Pose – aber der Revolver an der Schläfe ist nur eine Blumenspritze für die spießige Zimmerpflanze im Vordergrund: Es wird also ernstlich nichts passieren.

Solche ironischen Brechungen sind für den Künstler typisch: Auf dem Familienbild tragen die Eltern gelbe Waschlappen an den Füßen, und kleine Kritzeleien seiner Tochter wie auch ihre Fußabdrücke werden in ein Gemälde integriert: „Ich halte dich fest halten 2“ – auch sprachlich wird die naiv unkorrekte Grammatik der Kindersprache übernommen.

Dank Stipendium in Deutschland

Tesfaye Urgessa ist 1983 in Addis Abeba, Äthiopien, geboren und 2009 mit einem Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) nach Deutschland gekommen, wo er an der Akademie der Bildenden Künste Stuttgart studiert hat. Er lebt und arbeitet mit seiner Familie in Nürtingen.

Kulturamtsleiterin Alexa Heyder eröffnet an diesem Vormittag mit Urgessas Werken, die hier weltweit zum ersten Mal gezeigt werden, die erste Ausstellung nach der Sommerpause. Oberbürgermeister Martin G. Kaufmann freut sich in seinem Grußwort über die zahlreichen künstlerischen Aktivitäten in der Altstadt von der Lakuna, den Galerieverein über Kunst im öffentlichen Raum bis zum neuen Kunstquartier in der Schmalzstraße und entdeckt sogar eine „Kunstmeile“ in Leonberg. Durch seine Herkunft aus Äthiopien habe der Künstler Tesfaye Urgessa „einen anderen Blick“ auf unsere Gesellschaft.

Die Einführung von Kurator Marko Schacher bietet mehr Fragen als Antworten („Welche jungen Männer sind dargestellt? Immigranten? Soldaten? Ausrangierte Schaufensterpuppen?“) und viel kunstästhetisches Hintergrundrauschen („voller narrativer Aura“). Da hilft nur: Den Künstler selber fragen! Auf die Migrationsproblematik will er seine Bilder nicht reduziert wissen – er selbst hat keine Fluchterfahrung – , obwohl die zerschnittenen Körper durchaus als fragmentierte Lebensentwürfe gedeutet werden dürfen.

In einem Text von 2015 hat er erklärt, es gebe nichts, was er male, „das nicht in irgendeiner Weise mit mir selbst und meinem Umfeld zu tun hat.“

Kommunikation zwischen den Werken

Er erzählt von Inspirationen aus Umwelt und Gesellschaft. Manchmal arbeitet er an mehreren Bildern gleichzeitig, und auch zwischen den Bildern entsteht Kommunikation. Die starrenden Augen seiner frühen Bilder werden nun ersetzt durch Gegenstände, die den Betrachter anspringen – und Körper, die sprechen.

Es ist eine hochemotionalisierte Körpersprache: Gesichter zu Fratzen verzerrt, Figuren und Körper in ihrer fahlen Farbigkeit wie zerhacktes Fleisch, geschunden, gequält, stumpf gegenüber den anderen, ausgehöhlt und des Humanen beraubt, das in Zuwendung, Mitmenschlichkeit und Solidarität bestünde („No Country for Young Men 3“). Insofern zeigen Tesfaye Urgessas Gemälde einen Homo divisus, dem seine Ganzheit und positive Identität mangelt. Es sind beschädigte Menschen: Von einer modernen Welt zerhackt und überrollt, die sie nicht mehr verstehen: Der Springerstiefel in einem Gemälde deutet das an!

Und was sieht das Publikum in den Bildern? Eine Besucherin, die viele Jahre in Afrika verbracht hat, findet in Urgessas Bildern „die Farben Afrikas“ wieder: das erdige Rot, das Gelb, das fahle Grün. Eine Schülerin des Künstlers – er unterrichtet an der Freien Kunstschule Nürtingen – urteilt: „Er schaut hinter unsere Masken.“

Die Gemälde von Tesfaye Urgessa bieten verstörendes Material zum Nachdenken, den entlarvenden Blick von außen, und sein Selbstporträt am Eingang zeigt einen sehr reflektierten Kopf – gar nicht zersplittert!

Öffnungszeiten und Führung

Die Ausstellung kann bis 28. Oktober besichtigt werden und zwar immer dienstags, mittwochs, donnerstags sowie samstags und sonntags von 14 bis 18 Uhr. Am Sonntag, 7, Oktober, um 16 Uhr ist eine Führung mit Kurator Marko Schacher und am Sonntag, 28. Oktober, um 16 Uhr eine Führung mit Marko Schacher und Tesfaye Urgessa.