Wie die Pflegeheime müssen auch die Träger der Behindertenhilfe bis 2019 Doppelzimmer in Einzelzimmer umwandeln. Dadurch verringert sich die Zahl der Plätze. Neue Wohnprojekte sollen das kompensieren. Aber dafür fehlen in Stuttgart die Flächen.

Stuttgart - Die Träger der Behindertenhilfe sind händeringend auf der Suche nach Wohnraum. „Die Situation ist für uns alle dieselbe, das macht es nicht einfacher“, sagt die Sprecherin vom Behindertenzentrum (BHZ) Stuttgart, Leonie Seidel. Die Knappheit an Flächen sei ein Problem, sagt auch der Vorstandsvorsitzende der Lebenshilfe, Reinhard Bratzel. Ob Lebenshilfe, BHZ, Caritas oder Raphaelhaus – alle berichten von Wartelisten für ihre Wohnangebote und dass sie Menschen vertrösten müssten. Wie es aussieht, dürfte sich die Lage in naher Zukunft verschärfen.

 

Mehrere Aspekte kommen zusammen – demografische wie politische: Zum einen werden auch behinderte Menschen älter – die Plätze sind länger belegt. Ältere Behinderte haben zudem einen höheren Pflegebedarf, sodass ambulante Plätze für einen Teil nicht mehr in Frage kommen. „Sie bauen körperlich ab und brauchen das stationäre Setting“, erklärt Beate Lachenmaier, die Bereichsleiterin der Behindertenhilfe bei der Caritas, die viele entsprechende Anfragen aus dem ambulanten Bereich erreichen. Beim BHZ beobachtet man wiederum, dass behinderte Menschen heute jünger von zu Hause ausziehen als früher. Während 50-Jährige noch bei den betagten Eltern lebten, sei das bei 20-Jährigen seltener der Fall. Man habe es mit einer anderen Eltern-, und einer anderen Generation an behinderten Menschen zu tun, berichtet Leonie Seidel.

Landesheimbauverordnung ist von 2019 an bindend

Noch etwas zwingt die Träger der Behindertenhilfe, stationär Plätze ab- und anderswo (möglichst ambulant) aufzubauen: die Landesheimbauverordnung, die von 2019 an bindend ist. Ihr Ziel ist, die Lebensumstände für Menschen, die in Heimen leben, zu verbessern – seien sie pflegebedürftig oder behindert. Dazu gehört die Abkehr von Doppelzimmern und von Großeinrichtungen mit mehr als 100 Plätzen. Betroffen von der Verordnung sind in Stuttgart laut Stadt rund 100 Pflegeheime und Behinderteneinrichtungen mit insgesamt 7500 Plätzen. In der Region ist die Diakonie Stetten, der größte Träger der Behindertenhilfe, am meisten gefordert (siehe Infokasten).

Aber auch für andere Träger ist das Thema drängend: Die Caritas zum Beispiel hat im Haus St. Elisabeth in Zuffenhausen 15 Doppelzimmer. Bisher ist für die 15 fehlenden Plätze kein Ersatz in Sicht, wenn aus Doppel- Einzelzimmer werden. „Für das Haus Elisabeth können wir das Jahr 2019 nicht halten“, sagt Beate Lachenmaier. Bis ein neues Wohnheim stehe, vergingen fünf bis sieben Jahre. Die Caritas wird deshalb bei der Heimaufsicht, die für die Umsetzung der Verordnung zuständig ist, einen zeitlichen Aufschub beantragen.

Heimaufsicht geht Aufgabe lebensnah an

Das Therapeutikum Raphaelhaus hat bereits einen Antrag bei der Behörde gestellt, um nicht jedes Zimmer mit Bad ausstatten zu müssen, wie es die Verordnung vorsieht. Bei ihnen wohnten Menschen, die nie eine Toilette aufsuchen, weil sie Windeln tragen und Einläufe bekommen, erklärt der Geschäftsführer Kay Wuttig.

Wie es aussieht, dürfte der Antrag durchgehen: Er bestehe auf keiner Toilette, für die es keinen Nutzer gebe, sagt der Sachgebietsleiter der Heimaufsicht, Stefan Kinkelin. „Wir orientieren uns an den Gegebenheiten vor Ort, die Realität ist für uns maßgebend“, sagt Kinkelin. Nicht alles aus der Verordnung könne erfüllt werden. Wer schlüssige Konzepte vorlegen könne, erhalte eine Befreiung, Fristverlängerung oder Ausnahmegenehmigung. Es sei nicht im Sinne der Stadt, wenn in Heimen Hunderte von Plätzen wegfielen: eine Befürchtung, die Pflegeheimträger geäußert hatten.

Raphaelhaus will ambulante Wohngruppen aufbauen

Beim Raphaelhaus ist geplant, die Zahl der stationären Plätze bis 2019 von 56 auf 46 zu reduzieren: Acht Plätze im Tobias- und zwei im Lukashaus müssen abgebaut werden, um die Doppelzimmerregel einzuhalten. Der Wegfall soll über ambulante Wohngruppen ausgeglichen werden: am Stöckach sieht Wuttig gute Chancen, zum Zuge zu kommen. Außerdem hat das Raphaelhaus kürzlich den Zuschlag vom Land erhalten, ein Angebot aufzubauen, das es so noch nicht gibt: eine ambulant betreute Kleinwohngruppe für Menschen mit besonders hohem Förderbedarf. Darunter sind geistig Behinderte, die starke Verhaltensauffälligkeiten haben. „Wir betreten da Neuland“, sagt Wuttig.

Die Lebenshilfe und das BHZ haben keine Doppelzimmer. Sie sind anders von der Landesheimbauverordnung betroffen. Die Lebenshilfe hat bei der Heimaufsicht beantragt, kleinere Zimmer als von der Verordnung erlaubt nutzen zu dürfen: „Die exakte Festlegung der Quadratmeterzahlen bringt uns an mancher Stelle in die Bredouille“, sagt Reinhard Bratzel. Auch er kündigt an, stationäre Plätze in ambulante umzuwandeln – und sieht das als „Chance“.

Suche nach Neubaufläche schwierig

Beim BHZ sind zwölf Einzelzimmer einer Plieninger Einrichtung kleiner als von 2019 an erlaubt. Man werde umbauen, kündigt Leonie Seidel an. Die Zimmerzahl wird von 36 auf 24 verringert. Man sei auf der Suche nach der Fläche für ein Wohnprojekt mit 24 Plätzen: für zwölf aus dem alten Haus und zwölf Neuaufnahmen. Die Suche gestalte sich aber als schwierig.

Die Diakonie Stetten muss 15 neue Heime bauen:

Die Diakonie Stetten ist der mit Abstand größte Träger der Behindertenhilfe in der Region. Am Hauptstandort in Kernen im Remstal leben aktuell 730 Personen, davon etwa 200 aus der Landeshauptstadt Stuttgart. Es gibt 150 Doppelzimmer. 2009 waren es noch 870 Bewohner. Es wurde also bereits und wird auch weiter reduziert, aber ein Umbau von 870 auf 100 Plätze? Der Vorstandsvorsitzende der Diakonie Stetten, Rainer Hinzen, sieht das als nicht machbar an. Umso erleichterter ist man bei dem Träger, dass das Land den Komplexträgern der Behindertenhilfe entgegen gekommen ist.

Seit Februar ist klar, dass Komplexträger mehr als 100 Plätze anbieten dürfen, wenn sie das gut begründen können. Die Diakonie Stetten kann das: unter anderem führt sie das große Therapieangebot vor Ort (von Logopädie bis Reittherapie) ins Feld. Hinzen kündigt an, die Platzzahl sukzessive auf 520 herunter zu fahren – und zwar bis zum Jahr 2038. Selbst das sei „eine Riesenherausforderung“, schließlich müssten bis 2038 Grundstücke für Ersatzwohnheime gefunden werden, damit keine Plätze wegfallen. „Wir müssen 15 Wohnheime bauen“, so Hinzen.