In seinem Roman „Risiko“ folgt Steffen Kopetzky den Spuren einer legendären Geheimexpedition 1915 nach Afghanistan. Ein Besuch bei dem Autor und Lokalpolitiker in Pfaffenhofen.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Was, wenn alles nur ein großes Spiel wäre? Wenn die Grenze zwischen Ernst und Fantasie viel durchlässiger wäre als gemeinhin angenommen? Wenn sich inmitten der tristen Wirklichkeit ein fantastisches Schlupfloch öffnete, ihr nicht nur zu entkommen, sondern auf sie einzuwirken? Was, wenn sich die großen Konflikte unserer bedrohten Welt in einem Gedankenspiel still stellen ließen? So wie der tödliche Kampf zwischen Spinne und Ameise in dem Bernsteinamulett, das der Held von Steffen Kopetzkys neuem Roman „Risiko“ durch die halbe Welt von Bayern nach Afghanistan trägt, um den großen, 1914 entbrannten Krieg zu beenden?

 

Dieses Buch, in dessen Titel der Name eines beliebten Strategiespiels widerklingt, handelt davon, wie Politiker die Welt verspielt haben und ein Spieler sie schließlich rettet. Es erzählt entlang verbriefter Fakten von der Geheimmission nach Afghanistan, mit der einst das Kaiserreich versuchte, den Dschihad zu entflammen, um die islamische Welt gegen das britische Kolonialreich aufzubringen. Tatsächlich ist die politische Instrumentalisierung des Glaubenskriegs keine Erfindung eines gegenwartsgestählten Fabulierers, sondern eine der wilhelminischen Außenpolitik.

Bildungsreise durch die Einbildungskraft

Gleichzeitig aber erhebt sich dieser 700-Seiten-Wälzer falkengleich über den Boden der Tatsachen, um jene Alternativen auszuspähen, die der bekannten Geschichte eine andere Wendung hätten verleihen können, eine, die 1916 in den Frieden von Verdun geführt hätte: den Beginn eines lange währenden, friedlichen Zeitalters, in dem die mongolische Reitersportart Buzkaschi gute Chancen gehabt hätte, zur olympischen Disziplin zu werden und dem großen Krieg kein zweiter gefolgt wäre. Doch bis dahin ist es ein weiter, abenteuerlicher Weg auf einer historisch bestens informierten Bildungsreise durch die Einbildungskraft, durch Liebesgluten und heiße Wüsten, orientalische Veduten und opiatische Visionen.

Ein nebelverhangener Februartag auf dem Bahnhof des kleinen oberbayerischen Städtchens Pfaffenhofen an der Ilm. Nur wenige Leute steigen aus dem Zug von München aus und verlieren sich rasch im Grau des Vormittags. Gegenüber die schmucklose Dürftigkeit eines Gewerbegebiets, ein Parkplatz. Am Bahnsteig wartet ein von Straßenlärm umtoster, etwas verfroren wirkender Mann mittleren Alters, in Sakko und verwaschenen Jeans. Seinen Besucher empfängt er mit freundlich-scheuer Beflissenheit, einem wachen, musternden Blick durch seine Intellektuellenbrille – und einer erstaunlichen Gesprächseröffnung. Pfaffenhofen sei ein Brückenkopf zwischen München und Ingolstadt, den beiden wichtigsten Städten Oberbayerns; durch seine günstige Lage sei es enormem Wachstumsdruck ausgesetzt. Er zeigt in Richtung der tristen Gewerbebrache. „Das ist ein Hotspot, wir versuchen darauf Einfluss zu nehmen, was hier gebaut wird.“

Das Karma des Lokalpolitikers

Wir? So wie mit Steffen Kopetzky beginnen üblicherweise keine Unterhaltungen mit Schriftstellern. So klingt das Spiel der Politik, das der Autor als Stadtrat und ehrenamtlicher Kulturreferent offenbar virtuos beherrscht. Seit 2008 wird die 25 000-Einwohner-Kommune inmitten des Herzlandes der CSU von einer sozialdemokratisch geführten Mehrheit regiert. Auch so etwas kann Formen eines Glaubenskriegs annehmen. Für die Gründe, sich ihm auszusetzen, gibt es zwei Erklärungen: Die erste, exoterische klingt nach Zurück zu den Wurzeln. Nach seinen Wanderjahren als Schlafwagenschaffner, Berliner Literatur-Dandy und Leiter der Theaterbiennale Bonn ist der 1971 geborene Pfaffenhofener und Autor hochelaborierter und -bepreister Romane zurückgekehrt, um im geschützten Modus der Provinz mit seiner Frau, den beiden Kindern Leopold und Ada samt zwei schön gefärbten braunen Hasen die Familienphase seines Lebens zu eröffnen.

Die esoterische Begründung geht so: während einer seiner Reisen nach Indien ließ er sich von einer karmischen Beraterin, die dort in etwa die Rolle ausfüllt, die in Europa Versicherungsberater übernehmen, über sein Leben aufklären. „2008 something will start and you pay back to society“, lautete ihr Bescheid. Das war vier Jahre, bevor der neu gewählte SPD-Bürgermeister Pfaffenhofens ihn überredete, in die Politik zu gehen, um der Gesellschaft etwas zurückzugeben. Das erinnert stark an jenen Abenteurer und Orientalisten Oskar Niedermayer, der einst die besagte afghanische Kampagne führte, dessen Mission Kopetzky in seinem Roman an eine entsprechende Prophezeiung knüpft. Ihm hatte ein Traumgesicht offenbart, dass er von Berlin nach Persien zurückkehren werde.

Unter dem Schutz des Wissens

Magische Momente und Korrespondenzen gab es bei der Recherche des Stoffes, der den Autor schon seit mehr als zehn Jahren beschäftigt, zuhauf. Doch bevor er davon in der behaglich warmen Wohnküche der Kopetzkys erzählt, führt der Weg durchs Herz der Stadt. Mit ersten frühkindlichen Geschmacksurteilen verknüpft sind die Produkte des Babynahrungsherstellers Hipp, der hier seinen Sitz hat. Unweit davon liegt der Betrieb, in dem der Großvater, ein vertriebener Sudetendeutscher, als Industrieschlosser gearbeitet hat. Mit Genugtuung zeigt sein Enkel die mühsam erkämpfte Fußgängerzone auf dem Marktplatz, diesem und jener unterwegs ein vertrautes „Pfüadi“ zurufend. Als Gründer des örtlichen Kunstvereins hat er schmucklose Quartiere in Brutstätten der Kreativität verwandelt, mit besten Kontakten zur nationalen und internationalen Kunstaristokratie, die regelmäßig in einer mittlerweile von der Stadt erworbenen ehemaligen Fabrikhallen gastiert. Zur ästhetischen Produktivität der Stadt zählt auch, dass sie noch einen zweiten wichtigen Exponenten der deutschen Gegenwartsliteratur hervorgebracht hat: neben Kopetzky seinen Altersgenossen und lyrischen Konterpart Nico Bleutge.

Mehrere versteckte Widmungen an Pfaffenhofen hat Kopetzky seinem Buch eingearbeitet: Ilm, der Name des Flüsschens, klingt an das arabische Wort für Weisheit und Wissen an. „Darauf hat mich ein befreundeter pakistanischer Regisseur während seines Besuches gebracht.“ In dem Spruch eines orientalischen Schreibers kehrt „Ilm“ im Roman wieder: „Reichtum muss beschützt werden, während das Wissen seinen Besitzer schützt.“ Und dieser Schutz tut not: „Politische Arbeit ist nichts, was einen nur glücklich macht, da gibt es Konflikte und ein enormes Frustrationspotenzial.“ Pfaffenhofen habe auch ein andere Seite, bricht es aus Kopetzky heraus: „Eine kunst- und kulturfeindliche Dumpfbackenseite, ein muffiges ,Mia san mia‘, geprägt von der jahrhundertelangen Opposition gegen alles Aufgeklärte, Schöne und Lichte.“

Lieber spielen als töten

Als müsse ein enzyklopädischer Unterstrom seinen Roman von allem Trüben reinigen, öffnet Kopetzky die Schleusen für eine wahre Flut von „Ilm“. Was sich liest wie der packende Rapport einer abenteuerlichen Reise, führt das Wissen ganzer Handbibliotheken mit sich, deren Transport mindestens so vieler Kamele bedurft hätte wie die Funkmaschine, mit der die – fiktive – Hauptfigur Sebastian Stichnote ostwärts zieht. Stichnote ist eine Mittlerfigur. Als Funker soll er die Expedition begleiten. Ein Mensch gewordener Weltempfänger, der nicht nur Botschaften aus dem Äther entschlüsselt, sondern auch die Sprache der Vögel versteht und aus dem Zwischenreich des dionysischen Rausches mit seinen verstorbenen Weggefährten kommuniziert. Er führt die Gegensätze zusammen, islamisches und christliches Denken, Dschihad und ewigen Frieden.

All dies ist aus dem Geist des Spiels entwickelt. „Risiko“ ist auch eine Geschichte des Homo ludens. Go, Pachisi, Schach, Fußball, Polo und vieles mehr wird hier mit existenziellem Ernst gespielt. Das Spiel verwandelt einen blutigen Affekt in einen sozialen. Das gilt am Ende selbst für das sogenannte Große Spiel, mit dem ursprünglich einmal preußische Militärs in strategischem Denken geschult werden sollten. Im Verlauf des Romans wird es immer weiterentwickelt und angereichert. „Eigentlich hielt ich das für meine Erfindung“, sagt Kopetzky, „dann habe ich erfahren, dass im Schloss Charlottenburg tatsächlich das Exemplar eines solchen Spiels aufbewahrt wird. So ging es mir immer wieder: Man entwirft im Gedanklichen einen Raum – und findet darin ein Stück Wirklichkeit.“

Befreiung aus dem Zufallsgefängnis der Geschichte

Über den geheimen Grenzverkehr zwischen Spiel und Wirklichkeit findet eine ganze Reihe heute weitgehend vergessener Autoren Obdach in dem Roman: der Waffenhändler und Revolutionär Alexander Parvus, der von Konstantinopel aus die Russische Revolution vorbereitete; Pioniere deutscher Science-Fiction wie Bernhard Kellermann, der 1913 in seinem Buch „Der Tunnel“ gleichsam von der anderen Seite der Geschichte aus über ein 20. Jahrhundert ohne Weltkrieg schreibt und Ingenieurleistungen wie einen Tunnel unter dem Ärmelkanal vorausdachte; oder Kurt Lasswitz, dessen Roman „Zwei Welten“ bereits gegen den Irrsinn des Verbrauchs fossiler Energien auf die Kraft der Sonne setzt. „Wer glaubhaft über eine Epoche schreiben will, muss Bücher aus dieser Zeit lesen“, sagt Kopetzky.

Eines Tages gerät der leidenschaftliche Leser Stichnote in das Zelt eines persischen Erzählers. Über dessen verschachtelte, selbstbezügliche Kunst heißt es, er verstehe, „eine alte Geschichte, die jeder schon tausendmal gehört hatte, mit Ereignissen zu kombinieren, die ihrer Gegenwart angehören“. Ähnliches gilt für den mit allen postmodernen Wassern gewaschenen Autor dieses Romans. Indem er historische Tiefenschärfe mit dem freien Verfügen über die Fakten kombiniert, befreit er die rettenden Alternativen aus dem Zufallsgefängnis der Geschichte. Damit gibt er der Gesellschaft etwas Entscheidendes zurück: Möglichkeiten, von denen ein Lokalpolitiker nur träumen könnte.