Die Zahl der Parlamentarier im Südwesten, die durch die Nationalsozialsozialisten verfolgt wurden, ist deutlich höher als bisher bekannt war. Namhafte Landespolitiker wurden bedroht, inhaftiert oder hingerichtet. Der Landtag erinnert nun an sie.

Stuttgart - Kunigunde Fischer gehörte 1919 zu den ersten Frauen im Landtag von Baden. Wenige Wochen nachdem die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 an die Macht kamen, wurde die Karlsruher Sozialdemokratin in sogenannte Schutzhaft genommen, 1944 ein weiteres Mal verhaftet. Thekla Kauffmann, eine der ersten Frauen im Landtag von Württemberg, konnte sich nur durch die Flucht aus Deutschland retten. Die Mitbegründerin der Deutschen Demokratischen Partei wurde 1933 aus dem Staatsdienst entlassen, weil sie Jüdin war.

 

Wie den beiden Frauen erging es vielen Abgeordneten. Mit dem Ermächtigungsgesetz, dem alle Parteien außer der SPD am 23. März 1933 zustimmten – die Kommunisten waren da bereits inhaftiert oder untergetaucht – endete die junge Demokratie. Die Landtage wurden aufgelöst. Gegner dieser Gleichschaltung wurden systematisch bekämpft. Zuerst die Kommunisten, dann auch Sozialdemokraten, Vertreter der katholischen Zentrumspartei und des evangelischen Christlich-sozialen Volksdienstes und Liberale. Sie wurden bedroht, gedemütigt, verhaftet, einige hingerichtet. Häufig wurden auch Familienangehörige und Freunde eingeschüchtert und verfolgt.

Leidensgeschichte von 327 Abgeordneten

Als das Landtagspräsidium 2012 das neue Gedenkbuch in Auftrag gab, gingen die Experten von etwa 150 Betroffenen aus. Im Zuge der Recherche stießen die Mitarbeiter des Hauses der Geschichte, Grit Keller und Rainer Linder, jedoch auf immer neue Schicksale von politisch und rassistisch verfolgten Abgeordneten. Insgesamt 327 Personen sind in dem Band aufgelistet: 200 stammten aus sozialdemokratischen oder kommunistischen, 38 aus konservativ-bürgerlichen und 34 aus liberalen Parteien. Es sei nicht leicht gewesen zu beurteilen, wer als Geschädigter habe gelten können, sagte Paula Lutum-Lenger, Direktorin des Hauses der Geschichte. Man habe sich daran orientiert, ob sie nach dem Bundesentschädigungsgesetz entschädigt worden seien.

Im ersten Gedenkbuch des Landtags, das 2004 erschienen ist, waren 18 Abgeordnete aufgeführt – damals wurden besonders schwerwiegende Schicksale in den Mittelpunkt gestellt: etwa das von Eugen Bolz, dem württembergischen Staatspräsidenten, der wegen seiner Beteiligung am Widerstand gegen die Nazis 1945 enthauptet wurde. Oder von Kurt Schumacher, der als führender Sozialdemokrat jahrelang in Konzentrationslagern gequält wurde.

Terror gegen Nazigegner

Das neue Buch weitet den Blick. Aufgenommen sind darin auch Verfolgte des Naziregimes, die erst nach 1945 in Landtage oder den Bundestag gewählt wurden. „Neben der Würdigung der betroffenen Menschen geht es auch um die Frage, welche Rolle politisch Verfolgte beim Wiederaufbau der südwestdeutschen Demokratie gespielt haben“, erklärt Thomas Schnabel, der frühere Direktor des Hauses der Geschichte. Viele von ihnen hätten sich weiter politisch engagiert.

Das 676-seitige Werk zeigt den allumfassenden Terror, der diejenigen einschüchtern und zermürben sollte, die sich den Nazis entgegenstellten. „Diese Geschichten erzählen, wie die damaligen Feinde der Demokratie Parlamente und deren Arbeit diffamierten und von innen heraus sabotierten“, sagt Landtagspräsidentin Muhterem Aras (Grüne). „Sie der Öffentlichkeit zugänglich zu machen ist wichtig. Ein umfassendes Bild unserer Geschichte kann uns einen umso klareren Kompass für Gegenwart und Zukunft geben.“

Gedenkbuch auch im Internet abrufbar

Um das Gedenkbuch, das im Landtag ausliegt, möglichst vielen Menschen zugänglich zu machen, wurde es auch ins Internet gestellt. Neben Informationen zur politischen und beruflichen Laufbahn sowie der Verfolgung der Abgeordneten findet sich auch weiterführende Literatur. Unter ihnen sind Bekannte wie etwa Baden-Württembergs erster Ministerpräsident Reinhold Maier, die Bischöfe Theophil Wurm und Johannes Baptista Sproll oder die Kommunistin Clara Zetkin, aber auch viele Unbekannte – Landwirte, Arbeiter, Handwerker, Sekretärinnen.

Aras hofft, dass Lehrer und Schüler die digitalen Versionen nutzen, um sich mit den Schicksalen der verfolgten Politiker – etwa aus ihrer Region – zu beschäftigen. „Gedenken ist immer auch auf Gegenwart und Zukunft ausgerichtet“, sagt sie. „Es motiviert uns, Angriffen auf Menschenwürde und Menschenrechte mutig entgegenzutreten. Das ist der zeitlose Auftrag von Erinnerungskultur.“

Am Samstag, 21. September, lädt der Landtag zum Thementag „Haltung in dunkler Zeit: Parlamentarier als Vorbilder“ ins Bürgerzentrum ein. Im Mittelpunkt steht der badische SPD-Abgeordnete Ludwig Marum, der kurz nach der Machtübernahme von den Nazis verhaftet und 1934 ermordet wurde.