Eigentlich ist es eine überfällige Modernisierung: Mehr Frauen ins Parlament und mehr jüngere Wähler soll das neue Wahlrecht bringen. Doch die FDP warnt vor einer Explosion der Zahl der Abgeordneten – und macht einen brisanten Vorschlag.

Stuttgart - Es ist eine „Horror-Rechnung“: Mit der geplanten Reform des Wahlrechts droht aus Sicht der FDP im ungünstigsten Fall eine Verdopplung der Zahl der Abgeordneten im baden-württembergischen Landtag. Um das zu verhindern, schlägt FDP-Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke eine Reduzierung der Wahlkreise von 70 auf 60 vor. Er kann sich sogar 50 vorstellen. Rülke warnte am Freitag in Stuttgart davor, dass eine Aufblähung auf Kosten der Steuerzahler schlecht ankommen werde. Die Menschen würden in dem Fall sagen: „Das machen die nur, um ihre Pfründe abzusichern.“

 

Die Grünen winkten sofort ab: Der FDP-Vorschlag sei „unausgegoren“ und würde das Vorhaben nur auf die lange Bank schieben. Aber: Da die Reform eine Änderung der Landesverfassung nötig macht, braucht die grün-schwarze Koalition eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Landtag und ist somit auch auf die FDP angewiesen. Rülke versicherte: „Wir wollen das nicht als Hebel, um jegliche Wahlrechtsreform zu verhindern.“ Wie die FDP jedoch reagiere, wenn ihr Vorschlag abgelehnt werde, könne er noch nicht sagen: „Wie wir uns verhalten, wird man dann sehen.“ Die Größe des Parlaments sei eine „Bruchstelle“ bei den Gesprächen.

Was soll die Reform eigentlich bewirken?

Das Einstimmen-Wahlrecht in Baden-Württemberg ist einzigartig in Deutschland. Schon länger gibt es Pläne, das Wahlrecht zu ändern. Nun haben Grüne und CDU ihre Eckpunkte vorgelegt. Jüngere sollen wie schon bei Kommunalwahlen ab 16 Jahren wählen dürfen. Zudem soll es wie im Bund ein Zwei-Stimmen-Wahlrecht geben. Künftig sollen Wählerinnen und Wähler mit der Erststimme ihren Direktkandidaten im Wahlkreis in den Landtag wählen können. Die Zweitstimme soll wie bei der Bundestagswahl an eine Partei gehen. 70 Mandate sollen über die Direktmandate vergeben werden, mindestens 50 über die Listen der Parteien. Die Zweitstimmen sollen auf Basis einer geschlossenen Landesliste ausgezählt werden, um mehr junge Menschen und mehr Frauen ins Parlament zu bringen - dabei wird die Reihenfolge der Kandidaten durch die jeweilige Partei festgelegt.

Wo ist das Problem?

Rülke erklärte, die FDP sei mit den drei Punkten grundsätzlich einverstanden. Aber er befürchtet eine Entwicklung wie im Bundestag, wo statt der vorgesehenen 598 Abgeordneten mittlerweile 735 Abgeordnete sitzen. „Der Bundestag geht in die Richtung chinesischer Volkskongress.“ Der Nationale Volkskongress in China, das formelle Parlament, hat allerdings fast 3000 Mitglieder. Zurück nach Deutschland: Die Vergrößerung der Parlamente hängt damit zusammen, dass Union und SPD zwar häufig noch die meisten Direktmandate gewinnen, aber kein hohes Zweitstimmenergebnis mehr erreichen. Das führt zu zahlreichen Überhang- und Ausgleichsmandaten.

Der FDP-Politiker sagte, man wolle nicht, dass im Landtag am Ende 250 oder 300 Abgeordnete säßen. Der aktuelle Landtag besteht aus 154 Mitgliedern. Die Behauptung des Innenministeriums, wonach sich bei der Landtagswahl im Frühjahr auch unter den neuen Bedingungen an der Zahl der Abgeordneten nichts geändert hätte, sei „eine gewagte Annahme“. Das Ressort gehe davon aus, dass die Wähler bei ihrer Erst- und Zweitstimme dieselbe Partei wählten. Dies sei absurd, da die Bürger selbstverständlich von der Möglichkeit eines Stimmensplittings Gebrauch machen würden. „Splitting ist aber einer der Treiber der Parlamentsgröße“, erklärte Rülke.

Womit rechnet die FDP?

Auch die FDP hat gerechnet und dafür mit „extremen Annahmen“ gearbeitet, wie Rülke einräumte. Er geht fiktiv davon aus, dass die Grünen ohne Ministerpräsident Winfried Kretschmann im Jahr 2026 noch 25 Prozent holen, aber alle 70 Direktmandate gewinnen. Die CDU lande nur noch bei 18 Prozent, die SPD bei 17, die FDP bei 14 und die AfD noch bei 9 Prozent. Hinzu kämen hypothetisch noch die Freien Wähler mit 7 Prozent und die Linke mit 5 Prozent. „Dann kommen wir auf 267 Mandate.“ Reduziere man die Wahlkreise auf 60 sei das Ergebnis nur noch 226 Mandate. Das wäre immer noch ein Drittel mehr als im jetzigen Landtag. Eine „moderate Vergrößerung“ müsse man wohl in Kauf nehmen. „Wer das nicht will, muss die Reform abblasen.“

Wen würde eine Verringerung der Wahlkreise betreffen?

Betroffen wären vor allem die Parteien, die viele Direktmandate holen. Derzeit wären das also Grüne und CDU. Kein Wunder also, dass Grünen-Fraktionschef Andreas Schwarz den Vorstoß prompt ablehnte. Er wundere sich, weil die Liberalen und die SPD zu den Eckpunkten „bereits ihr „Go“ signalisiert“ hätten, sagte er, was Rülke sofort bestritt. CDU-Fraktionschef Manuel Hagel sagte: „Weniger Wahlkreise hieße, dass die Anzahl der Menschen, die ein Abgeordneter vertritt, deutlich ansteigen würde und sich so zwangsläufig die Distanz zwischen Bürgern und Abgeordneten vergrößern würde. Daher halten wir die aktuelle Anzahl von 70 Wahlkreisen für sinnvoll.“

Aber auch die SPD ist nicht ganz auf der Seite der FDP. Zwar wolle man „extreme Auswüchse“ vermeiden, sagte Fraktionschef Andreas Stoch der dpa. Diese „Katastrophenrechnung“ von Rülke blende aber aus, dass beim Einzug von zwei weiteren kleinen Parteien der Landtag auch unter den bisherigen Bedingungen größer werde. „Das ist letztendlich Demokratie und der Wille des Wählers.“