Wären sie witzig gemeint, wären die Durchsagen der Bahn am Montagmorgen während des Warnstreiks vielleicht sogar lustig gewesen. Was sie aber tatsächlich offenbaren, ist bizarre Taktlosigkeit. Ein Erfahrungsbericht.

Digital Desk: Sascha Maier (sma)

Stuttgart - Dass es noch viel schlimmer werden sollte als in einem Schulbus, in dem mindestens eines der Kinder seine Blähungen nicht im Griff hatte, war am Montagmorgen um 7.30 Uhr zwischen Reichenbach und Plochingen nicht abzusehen.

 

Dass die direkte Zugverbindung nach Stuttgart aufgrund des Warnstreiks der Bahn plötzlich von der VVS-App verschwindet, geschenkt. Dass der erwähnte Schulbus wenig später so nett ist, uns an der Bushaltestelle aufzulesen, freundlich. Dass man damit im Randgebiet des Landkreises Esslingen herumgurken muss, verständlich. Doch was dann kommt, ist eine Farce – und zeigt, dass bei der Bahn in Sachen Kommunikation noch viel Luft nach oben ist.

Schauplatz nach der Schulbusfahrt: Die Gleise des Plochinger Bahnhofs. Die Hoffnung, wie von der Bahn kolportiert, mit einer S-Bahn in die Landeshauptstadt zu gelangen, nachdem der Regionalverkehr zum erliegen kam, wird jäh zunichte gemacht. „Streikauswirkungen. Zur Zeit kein Zugverkehr!!“ Zwei Ausrufungszeichen hintereinander zeugen zwar nicht von gutem Stil, sind aber immerhin ehrlich.

Weitere Infos? Fehlanzeige. Die VVS-App schwindelt weiter von Verbindungen, die sich als Märchen herausstellen, wenn die App nicht gerade aus Überbeanspruchung streikt. Das Nervenkostüm hält noch, man begibt sich ans Gleis 9 und wartet, hofft und bangt, ob die S1 Richtung Herrenberg über den Stuttgarter Hauptbahnhof nicht doch noch kommt.

Der Himmel reißt auf, es ist die S1

Nach einer guten halben Stunde aufreibender Ungewissheit: Der Himmel reißt auf, am Horizont tut sich was, es ist die S1. Beim Näherkommen dann die Ernüchterung: Der Zug fährt nur bis Esslingen. Das Nervenkostüm beginnt zu wackeln, nicht nur beim Verfasser dieser Zeilen, wie lautstarke Verwünschungen der anderen Fahrgäste gegenüber der Bahn zweifelsfrei belegen.

Bevor man sich nach fünf Minuten in der völlig überfüllten Bahn über einen Etappensieg freuen kann, rutscht selbst dem wackersten, bahnchaoserprobtesten Nutzer des öffentlichen Nahverkehrs das Herz in die Hose. Nicht einmal dann, wenn der VfB während des Cannstatter Volksfests spielt und zeitgleich Helene Fischer ein Konzert in der Schleyerhalle gibt, ist es am Esslinger Bahnhof so überfüllt.

Das Nervenkostüm liegt jetzt in Trümmern. In diesem Zustand, die nächsten Stunden eng an eng mit den anderen Verzweifelten verbringen zu müssen, ihr Rasierwasser und ihren Zwiebelmettbrötchen-Atem riechen zu dürfen, sucht die Psyche verzweifelt nach Auswegen.

Beinahe in Ulm gelandet

Eine Lautsprecherdurchsage weckt einen schließlich aus seinem Nach-Innen-gekehrt-Sein: „Aufgrund des Streiks kann es zu Verspätungen und Ausfällen kommen.“ Ach was, nachdem wir uns hier alle mindestens eine halbe Stunde die Füße abfrieren! Man ist fast geneigt, das der Bahn als Humor auszulegen. Wahrscheinlicher ist aber bizarre Taktlosigkeit. Mittlerweile ist es 8.30 Uhr.

Ein weiterer Scherz auf Schienen steht irgendwann am Gleis 8. So eine gelbe Ersatzbahn, wie man sie in Stuttgart nur selten sieht. Sie wurde offenbar bestellt, um die Lage zu entschärfen. Perfekt, Reiseziel Stuttgart, zeigt die Bahn an. Ein Blick zur Anzeigetafel rettet uns vor der Vollkatastrophe, dort steht nämlich der Zielbahnhof Ulm.

Nach etwas Palaver mit den anderen wird klar, dass der Zug wohl wirklich nach Ulm fährt. Gut, dass man bis jetzt noch nicht auf die eigentlich sehr naheliegende Idee gekommen ist, die Kopfhörer aufzusetzen, Musik zu hören und einfach in diese falsche Bahn zu stoffeln.

Die Bahn kommt – jetzt werden die Ellenbogen ausgefahren

Der Falle nur knapp entronnen, muss man sich das Folgende ein bisschen vorstellen wie ein Pokerspiel. Es gibt keine Infos, wann wo eine Bahn eintreffen könnte, die App spielt jetzt völlig verrückt. Also bleibt einem nur, zu wetten.

Gleis 3 entpuppt sich als falsch. Plötzlich erscheint auf einer scheinbar abgeschaltet herumstehenden S-Bahn am Gleis 8 die Anzeige: S1 – Herrenberg über Hauptbahnhof. Und dann setzen sich Hunderte Menschen an allen Gleisen gleichzeitig in Bewegung. War man eben noch im Schicksal geeint, werden jetzt die Ellenbogen ausgefahren, schließlich werden niemals alle Platz in der Bahn finden und niemand möchte zu den Verlierern gehören.

Zu den Verlierern gehörend geht die zweite Stunde ins Land. Die Psyche wird seltsam kreativ und fragt sich, wie viel Geld man hier wohl mit einem Glühweinverkauf machen könnte. Als die nächste Bahn gegen 9.30 Uhr unangesagt einfährt, diesmal wirklich am Gleis 3, gelingt es irgendwie, sich im Strom hineinspülen zu lassen. Man wünscht sich hier fast die Luft aus dem Schulbus zurück, aber wir sind weit darüber hinaus, uns über so was noch aufzuregen. Und dann, kurz vor Stuttgart, versetzt folgende Ansage im Zug alles in Gelächter: „Für ihre Anschlussmöglichkeiten, achten Sie bitte auf die Durchsagen am Bahnsteig.“