Mit „Georg“ setzt Barbara Honigmann ihrem Vater ein bewegendes Denkmal. Am 12. Februar feiert die große Chronistin ihren siebzigsten Geburtstag.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Wenn die große Geschichte das eigene Leben schneidet, bedeutet das für eine jüdische Familie im 20. Jahrhundert in der Regel eine tiefe, nie heilende Wunde. Bei Barbara Honigmann erstreckt sie sich von dem Bruch ihres Urgroßvaters mit dem orthodoxen Judentum, über die Shoah, die enttäuschten Hoffnungen eines Neuanfangs im antifaschistischen Bollwerk des anderen Deutschland bis zur Rückkehr zum Glauben in einer orthodox-jüdischen Gemeinde in Straßburg. Die am 12. Februar 1949 in Ostberlin geborene Autorin erzählt von der Geschichte als Familienaufstellung. „Roman von einem Kinde“ war der Titel ihres Debüts von 1986, es folgten Bücher über ihre Eltern, ihre Beziehungen, ihre Straße. Während sich darin die Ungeheuerlichkeiten biografischer Erfahrung immer weiter entfalten, verdichtet sich ihre Schreibweise zu einer immer kunstvolleren Einfachheit. Und doch enthält jeder ihrer Romane alle andern in sich.

 

In „Einem Kapitel aus meinem Leben“ hat Honigmann die turbulente Geschichte ihrer Mutter erzählt. Die überzeugte Kommunistin war, bevor sie im Londoner Exil Honigmanns Vater kennenlernte, mit dem legendären Doppelagenten Kim Philby verheiratet, der unter dem Deckmantel eines konservativen Journalisten für den KGB militärische Geheimnisse des Westens ausspionierte. Ihrem Vater hat Barbara Honigmann bereits 1991 „Eine Liebe aus Nichts“ gewidmet. Nun blättert sie seine Geschichte erneut auf.

Besuch nach 22 Uhr verboten

Georg Honigmann stammte aus großbürgerlichen Kreisen in Hessen. Geprägt von der zärtlichen Liebe seiner jüdischen Großmutter aus „Dammschtadd“ und der humanistischen Reformpädagogik der Odenwaldschule wurde er ein erfolgreicher Redakteur bei der „Vossischen Zeitung“. Gerade noch rechtzeitig konnte er sich vor den Nazis als Korrespondent nach England absetzen. Dort wurde er zum Kommunismus bekehrt, stieg nach dem Krieg in die oberen Sphären der realsozialistischen Kulturbürokratie der DDR auf – und landete an seinem sechzigjährigen Geburtstag nach mehreren gescheiterten Ehen, unter anderem mit der berühmten Schauspielerin und Brecht-Interpretin Gisela May, in einem möblierten Zimmer in der Nähe Berlins. Besuch nach 22 Uhr verboten.

Damit beginnt „Georg“, ein schmales Buch über ein Leben, in dem vieles zerbrach, „Lieben und Ehen und der Familienzusammenhalt und Tradition und Religion und Zugehörigkeiten jeder Art“. Einzig mit der Tochter schließt er einen Pakt unter seinesgleichen, „wir Männer“, spricht er sie an. Und was das neugierige Kind ihm mit dem steten Appell „Erzähl weiter Pappi“ entlocken konnte, bildet das Material, das die reife Autorin zu Prosastücken ordnet, deren schlichte Schönheit die „miese Erbschaft“, die der Vater durch sein Leben schleppte, literarisch amortisiert.

Die miese Erbschaft, das ist, was ihm vom Großvater hinterlassen wurde: eine lebenslanges Zwischen-den-Stühlen-sitzen. Für die Juden fehlte ihm das Bekenntnis, für die Deutschen blieb er der Jude, der englische Geheimdienst, der ihm auf den Fersen war, notierte sein mediterranes Aussehen und seine „prominent nose“; für die Genossen war er zu bürgerlich, für die Bürger zu bohèmehaft.

Nur im Buch der Tochter darf er sein, was er ist. Es macht den Abgrund eines Jahrhunderts sichtbar, der zwischen den Stühlen seines Lebens klafft, und die verzweifelte Grazie, mit der er sich trotz allem darüber gehalten hat.