Nach etlichen Querelen haben die Bayreuther Festspiele kurz vor der „Parsifal“-Premiere einen Einspringer gefunden, der es als Dirigent schon längst vor Ort hätte schaffen sollen.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Stuttgart - Beim letzten Mal, als der Dresdner Dirigent Hartmut Haenchen eine „Parsifal“-Premiere leitete, hatte er am Ende ein ziemlich versöhnliches Tableau im Blick. An der Pariser Bastille-Oper nämlich entwarf der polnische Regisseur Krzysztof Warlikowski 2008 das Schlussbild als friedliche Abendbrotszene: Amfortas, nicht länger wund und wieder gesund, Kundry, als Mutter vollkommen integriert, Parsifal, simpel happy, und ein kleiner Bub, der die erlöste Menschheit wohl bald einer neuen gesellschaftlichen Morgenröte zuführen würde, teilten sich Brot und Wein.

 

So entspannt und als heilige Familie hätte man das innerbetrieblich immer gern bei den Bayreuther Festspielen, zumindest wenn es nach den oberen Funktionsträgern vor Ort geht, als da sind: Katharina Wagner, Festspielleiterin, und Christian Thielemann, Musikdirektor – ein Posten, den es in Bayreuth bis vor ein paar Jahren nicht gegeben hat. Dirigenten kamen und gingen, mal ganz nach Gusto der Chefin, mal rein nach Marktlage.

Etabliert als Koordinator wurde dann aber eben Christian Thielemann, der mehr auf das große Ganze schauen und zugebenermaßen die Gegebenheiten in Bayreuth – Akustik, Erwartungshaltungen, Abläufe und ein paar Zaubertricks – am besten drin und drauf hat. Andererseits gehören Zurückhaltung, Bescheidenheit und – sagen wir – Takt nicht zu Thielemanns überentwickelten Charaktereigenschaften. Er betrachtet, zu Recht oder nicht, das Haus in Bayreuth als sein Wohnzimmer. Gäste: ja. Dauergäste: schon schwieriger. Landlord: Thielemann. In der Art.

Nelson seit Jahren notorisch überlastet

Zu seiner eigenen Überraschung ist Thielemann, wie berichtet, nun während der beginnenden Probenzeit letzte Woche der Kollege Andris Nelsons abhanden gekommen, den der Musikdirektor „fast als Freund“ verbucht hätte. Nelsons, der den „Parsifal“ dirigieren sollte, wollte für ein paar Tage nach Riga, kam dann aber vom Heimaturlaub nicht mehr zurück. Nach wie vor kann über die Gründe nur spekuliert werden. Thielemann hat sich eindeutig geäußert. Es habe kein Zerwürfnis, ja noch nicht mal unterschiedliche Auffassungen gegeben. Wobei Thielemann selbst dann nicht weisungsbefugt wäre, wenn ihm bei anderen etwas komplett gegen den Strich ginge.

Nelsons hat als Dirigent der lange gezeigten, hoch erfolgreichen „Lohengrin“-Produktion (Regie: Hans Neuenfels) gezeigt, was er kann. Zudem war er bestens vorbereitet durch einen konzertanten 3. Aufzug des „Parsifal“ in München vor zwei Jahren mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, als in Bayreuth noch der Künstler Jonathan Meese das Stück inszenieren sollte. Das hat sich mittlerweile auch von selbst erledigt; Uwe Eric Laufenberg, eher ein Regiepragmatiker als ein Rabauke, hat übernommen. Es gehe nunmehr irgendwie „islamkritisch“ zu auf der Bühne, heißt es, aber es heißt schon mal viel in Bayreuth, wenn es Juli geworden ist.

Nelsons’ Demission könnte einen anderen, einfacheren Grund haben: Ohne Entschuldigung lässt normalerweise kein Mann von seiner Güte und Grundeinstellung die Beteiligten zurück. Nelsons ist seit Jahren notorisch überlastet, dirigiert fest das Boston Symphony Orchestra und das Luzern Festival Orchestra, demnächst kommt auch noch das Gewandhausorchester Leipzig dazu, während er in der Restzeit zwischen Berlin, London und Tanglewood pendelt. Daheim ist die Ruhe allenfalls relativ: Nelsons’ Frau, Kristine Opolais, große Sopranistin und Charakterdarstellerin, hat gerade eine Hauptrolle in der Münchner Opernfestspielproduktion „La Juive“ zurückgegeben, das gemeinsame Kind ist noch klein, und trotz aller Nannys und Haushaltshilfen: Es sind schon ganz andere Kleinfamilien wegen falschem Ehrgeiz und Überbelastung zusammengebrochen.

Ausgerechnet in Dresden fündig geworden

Nach naturgemäß schwieriger Ersatzdirigentensuche ist Bayreuth ausgerechnet in Dresden fündig geworden, wo Thielemann chefamtiert. Hartmut Haenchen, Jahrgang 1943, sträflicherweise vorher niemals richtig in Erwägung gezogen, übernimmt, und man möchte von einem Glücksfall sprechen. Vertrauer mit der „Parsifal“-Partitur ist mutmaßlich noch nicht mal Christian Thielemann, denn Haenchen, lange, tolle Jahre Chefdirigent der Amsterdamer Oper, hat für die erwähnte Pariser Produktion alle heutzutage bekannten Quellen neu gelesen und die Uraufführung von 1882 analysiert und frisch bewertet.

Heraus kam, dass ein „Parsifal“, wie immer er im Einzelnen angelegt sei, als Viereinhalbstundenschinken und Langsamkeitsexerzitium ein Ding der Unmöglichkeit ist. Wagner selber, legte Haenchen damals nahe, wollte es im Grunde noch fließender und pointierter haben als Pierre Boulez, der schon eine glatte Stunde schneller war als Dirigenten wie Arturo Toscanini oder James Levine. Ohne zu hetzen, versteht sich. Man darf also gespannt sein, wie Haenchen jetzt in kürzester Zeit das Orchester auf seine Lesart einschwören wird. Andererseits lässt sich an Boulez (und die überragende Schlingensief-Produktion) in Bayreuth anknüpfen. Nicht die schlechteste Notlösung.

Haenchen muss dafür Arbeitsbedingungen annehmen, die selbst Thielemann abenteuerlich nennt. Aus einem nicht gelungenen Kommunikationsprozess mit der Stadt Bayreuth hat die Festspielleitung nämlich gefolgert, dass sie sich wegen der angespannten Weltlage und möglichen Gefährdungen eines Events wie Bayreuth rechtzeitig um ein neues Sicherheitskonzept am Grünen Hügel bemühen müsse. Jetzt schaut es leider so aus, dass schon vor den Sperrgittern die alte Gemütlichkeit und Sorglosigkeit dahin ist, weil im Garten ein privater Sicherheitsdienst herumpilgert, der selbst von Herrn Thielemann fünfmal am Tag den Hausausweis sehen will. Das irritiert nicht nur jene Beteiligten, die noch gewohnt waren, dass man, einmal drin am Hügel, wirklich fast überall hin kam. Bayreuth war wegen dieser stinknormalen Verhältnisse halt auch immer besonders geschätzt.

Hartmut Haenchen wird das alles wenig stören: vermutlich steckt er mit beiden Ohren im Stück und merkt nicht, was sonst so vorgeht. Noch sechzehn Tage.