Je schwerer behindert ein Kind ist, desto weniger Unterstützung gibt es für die Familien zu Hause – das beklagen Betroffene. Träger setzen vielfach auf Ehrenamtliche. Doch die dürfen keine medizinische Versorgung übernehmen.

Familie/Bildung/Soziales: Viola Volland (vv)

Stuttgart - Werden Eltern von schwerbehinderten Kindern von der Stadt, von Trägern und Kassen unzureichend unterstützt? Nach dem Suizid eines Vaters aus Ostfildern, der zuvor seinen schwerbehinderten Sohn getötet hatte, hat eine Reihe Betroffener, deren Kinder zu Hause leben, diesen Vorwurf gegenüber der StZ geäußert. Die Eltern fordern mehr Hilfe und eine stärkere Würdigung ihrer Arbeit. Für betroffene Familien gebe es „Unterstützung von vielen Seiten“ , hatte im Nachgang des tragischen Falls eine Vertreterin der Lebenshilfe behauptet – dieser Aussage widersprechen die Eltern nun vehement. „Es wäre schön, wenn es so wäre“, meint zum Beispiel Ines N. „Man muss um alles kämpfen“, sagt die Mutter eines schwerbehinderten 18-Jährigen.

 

„Familienentlastende Dienste arbeiten meist aus Kostengründen mit ungelernten Freiwilligen, die Schwerstpflegebedürftige dann nicht allein pflegen und betreuen dürfen“, schreibt die Mutter einer körperlich schwerstbehinderten 21-Jährigen. Fachkräfte seien kaum zu bekommen und „sündhaft teuer“. Das Personal der ambulanten Pflegedienste sei alleine meist überfordert, kritisiert die Mutter. Die Mitarbeiter stünden in der Regel auch nur zu normalen Arbeitszeiten zu Verfügung. Nach Dienstzeiten und zu starker Belastung der Angehörigen frage jedoch keiner.

Betreuung in den Schulferien ist ein Problem

Auch die Logopädin Hermine Stotz erlebt in ihrem Beruf viele Familien „am Limit“. Die Unterstützung stehe zwar auf dem Papier, „aber letztlich muss man es selbst abdecken“, kritisiert die Sprachtherapeutin, die selbst einen behinderten Sohn hat. In der häuslichen Kinderkrankenpflege gebe es große personelle Engpässe. Auch seien in den Schulferien, die natürlich auch behinderte Kinder haben, die Betreuungsangebote unzureichend.

Letzteres kritisiert auch Ines N. Nur eine Einrichtung in Stuttgart sei bereit gewesen, ihren betreuungsintensiven Sohn in den Ferien zu nehmen: das Kindergästehaus der Caritas. Diese Institution hat Platz für maximal zwölf Kinder – nach Angaben der Leiterin Beate Harfmann ist die Warteliste „dramatisch lang“, auch bei der Kurzzeitbetreuung sei sie dreistellig.

Kein Träger will den betreuungsintensiven Sohn

Ines N. hat den Eindruck, dass die Unterstützung einer Familie von der Art der Behinderung abhängt. Sei das Kind relativ leicht zu betreuen, habe man es einfacher, sei das Kind schwerbehindert, bekomme man weniger Hilfe – so sei es zumindest in ihrem Fall: Ihr Sohn wurde mit Tuberöser Sklerose geboren. Der 18-Jährige ist geistig auf dem Stand eines Zweieinhalbjährigen, hat Weglauftendenzen, autistische Züge, kann nicht sprechen und hat epileptische Anfälle. Bis Sommer geht er zur Schule. Verzweifelt ist sie auf der Suche nach einer anschließenden Tagesbetreuung. Weil ihr Sohn so betreuungsintensiv sei, wolle ihn kein Träger nehmen. Sie habe nur Absagen erhalten, bei einer Einrichtung stehe die Entscheidung noch aus. Ihn auf der Schule zu lassen, was bis zum Alter von 25 Jahren möglich ist, komme nicht infrage. Die Schule sei nichts für ihn. Ines N. hat jetzt Angst um ihre halbe Stelle.

Der Stadt sind Geschichten von Eltern schwerbehinderter Kindern bekannt, die sich von Trägern Absagen einholen, bis sie endlich einmal einen Platz bekommen. Sozialamtsleiter Walter Tattermusch sieht den Gesetzgeber in der Pflicht, tätig zu werden, um den Betroffenen bei den Hilfen zu mehr Autonomie zu verhelfen. Die Leistungen in der Eingliederungshilfe müssten anders gestaltet werden. Das neue Bundesleistungsgesetz sei überfällig. „Wir halten uns bei den Leistungen an die gesetzlichen Vorgaben und versuchen im gegebenen Rahmen das Mögliche“, sagt Tattermusch. Er stellt die Fallmanager heraus, die die Stadt finanziere – dieser Stuttgarter Weg habe sich sehr bewährt (siehe „Ein Fallmanager ist für 85 Personen zuständig“).

Ehrenamtliche dürfen nicht medizinisch unterstützen

„Es gibt eine Lücke im System“, räumt Birgit Sauerein, die für die offenen Hilfen zuständige Fachbereichsleiterin der Lebenshilfe. In ihrem Bereich seien Familien mit behinderten Kindern benachteiligt, die medizinisch versorgt werden. „Hier ist der Personenkreis begrenzt, den wir betreuen können“, so Sauer. Sie hätten wesentlich mehr ehrenamtliche Helfer im Einsatz als Fachkräfte, die zu den Familien nach Hause kommen. Ehrenamtliche dürften keine medizinische Unterstützung gewähren.

Auch die Höhe des Budgets sei ein Problem: Jeder Familie stünden die gleichen Mittel für offene Hilfen zur Verfügung. Die Folge: Eltern eines leichter behinderten Kindes, zu dem eine ehrenamtliche Kraft kommen kann, könnten mehr Stunden an Unterstützung bekommen – besonders belastete Eltern eines schwerbehinderten Kindes, für das nur eine teurere Fachkraft infrage kommt, erhalten weniger Hilfe und dadurch weniger Entlastung.

Zu wenig Assistenz für behinderte Menschen

„Wir haben ein dichtes Netz in Stuttgart, gerade was die Familienentlastung angeht“, meint dennoch Ursula Marx. Die Behindertenbeauftragte der Stadt nennt die Angebote der Kurzzeitpflege, die von der Stadt zusätzlich finanziert würden. Ein „Riesenproblem“ sei, dass behinderte Menschen zu wenig Assistenz bezahlt bekämen. Die Teilhabemöglichkeit müsse sich bessern, fordert sie deshalb.

Die Mutter eines heute Zweijährigen ehemaligen Extremfrühchens mit geschädigter Lunge sagt, ihr täte es schon guttun, würde sie nur einmal angelächelt, wenn sie mit ihrem Sohn spazieren geht. Doch alle schauten immer verschämt weg.