In Belarus toben die Proteste gegen die Wahl des Präsidenten weiter. Es gibt nun Anzeichen, dass die Oppositionspolitikerin Maria Kolesnikowa entführt wurde. Die gelernte Flötisitin wurde einst in Stuttgart ausgebildet.

Minsk - Ein schwarzer Kleinbus stoppt abrupt. Maskierte Männer in Zivil springen heraus und zerren eine Frau mit kurzen, blonden Haaren vom Gehweg. Augenzeugen sind sicher, die prominente belarussische Oppositionspolitikerin Maria Kolesnikowa erkannt zu haben. Dann rast das Fahrzeug davon. Von diesem Zeitpunkt an ist Kolesnikowa telefonisch nicht mehr zu erreichen. Auch der Kontakt zu ihrem Sprecher Anton Rodnenkow und einem weiteren Vertrauten bricht wenig später ab.

 

Ehemalige Stuttgarterin

Kolesnikowa, gelernte Flötistin, die einst an der Musikhochschule in Stuttgart ausgebildet wurde, ist eine der wichtigsten Oppositionellen, die sich gegen den Staatschef Alexander Lukaschenko stellen. Alle drei – Kolesnikowa, ihr Sprecher und der Vertraute – wurden mutmaßlich verschleppt von Kräften des Regimes. Davon zumindest sind die Menschen in ihrem Umfeld überzeugt. Aber auch der litauische Außenminister Linas Linkevicius twittert schon kurz nach den Meldungen aus Belarus: „Die Entführung von Maria Kolesnikowa im Zentrum von Minsk ist eine Schande.“ Kolesnikowa müsse umgehend freigelassen werden.

Die belarussischen Behörden aber fühlen sich nicht angesprochen und dementieren eine Verhaftung. Man versuche, etwas über den Aufenthaltsort der Vermissten herauszufinden, teilt das Innenministerium mit.

Herausforderin Lukaschenkos

Beim Blick auf die Ereignisse der vergangenen Wochen drängen sich allerdings andere Schlüsse auf, auch wenn zunächst niemand Genaues über Kolesnikowas Schicksal weiß. Aber die 38-Jährige ist ja nicht irgendwer. Sie gehört zu jenen Frauen, die den seit 1994 autoritär regierenden Lukaschenko bei der Präsidentschaftswahl am 9. August mit verblüffender Durchschlagskraft herausgefordert haben. Als Kandidatin trat damals Swetlana Tichanowskaja an und versammelte so unerwartet viele Stimmen auf sich, dass Lukaschenko das Ergebnis nach Einschätzung internationaler Experten in großem Stil fälschen ließ. Seither reißen die Proteste in Belarus nicht ab, und Kolesnikowa ist ihr bekanntestes Gesicht.

Auch Nobelpreisträgerin unter den Demonstranten

Am Montag zweifeln deshalb in Minsk nur regimetreue Kommentatoren an einer Beteiligung der Staatsmacht an Kolesnikowas Verschwinden. Zumal die 38-Jährige im Koordinierungsrat der Opposition eine zentrale Rolle spielt. Auch weitere Vertreter des Koordinierungsrates sitzen derzeit in Haft. Als weniger aktives, aber prominentestes Mitglied ist Literatur-Nobelpreisträgerin Swetlana Aleksijewitsch noch in Freiheit. Doch auch die 72-Jährige wurde bereits direkt nach der Gründung des Gremiums zum Verhör einbestellt. Viele Experten sehen in den Schlägen gegen die Führung der Opposition den Versuch, der Protestbewegung die Wucht zu nehmen.

Tichanowskaja nennt die Aktionen schlicht „Terror“. Die in Belarus geborene Politikwissenschaftlerin Olga Dryndowa, die an der Forschungsstelle Osteuropa in Bremen arbeitet, hält das Vorgehen eher für ein Zeichen der Ratlosigkeit. Offenkundig habe „die Staatsmacht bislang keine Strategie gefunden, um die Proteste zu beenden“.

Dryndowa zeichnet ein Bild von der Lage in Belarus, das nicht auf ein schnelles Abebben der Revolte hindeutet. „Die Bewegung ist dezentral und wächst von unten. Sie lernt sehr schnell. Es entstehen ständig neue Formen der solidarischen Selbstorganisation in Minsk und auf regionaler Ebene.“ Deswegen sei Kolesnikowas Verschwinden kein entscheidender Schlag gegen die Opposition.