Die Bilder des Erdbebens vom Februar sind aus den Fernsehnachrichten verschwunden, das Leid aber ist in der Türkei und in Syrien geblieben. Bei einer umjubelten Benefizgala im Theaterhaus gehen die Kultur und das Publikum „Hand in Hand“.

Stadtleben/Stadtkultur: Uwe Bogen (ubo)

Wie anonyme Geschäftsleute sehen die in Anzügen und mit Hüten uniform gekleideten 16 Tänzerinnen und Tänzer aus, die im Stuhlhalbkreis der Theaterhaus-Bühne erst gelangweilt wirken, zum Refrain des traditionellen jüdischen Lieds „Echad mi Jodea“ aber immer wilder werden. Nach und nach reißen sie sich die Kleider vom Körper, werfen diese durch die Luft, bis sie sich nur im Leibchen der Musik hingeben, um mit atemberaubenden Bewegungen und tollkühnen Verrenkungen zum großen Vergnügen des Publikums auszuflippen.

 

Gauthier Dance führt „Minus 16“ mit großer Leidenschaft auf

Das Stück „Minus 16“ von Ohad Naharin, von Gauthier Dance in chaotischer Perfektion aufgeführt, gilt als Schlüsselwerk des modernen Tanzes. Zum Höhepunkt gehen die 16 Akteurinnen und Akteure in die Zuschauerreihen, um sich 16 „Freiwillige“ zum Mittanzen auf die Bühne zu holen. Die machen so toll mit, dass daraus eine ganz besondere Stimmung entsteht. Schließlich verlassen die Amateure das Scheinwerferlicht, gehen zurück zu ihren Plätzen. Eine Lady in Red aus dem Publikum bleibt übrig. Und wumms – das Ensemble schmeißt sich auf den Boden. Der stürmische Applaus gilt der Mutigen, die nun als Einzige noch steht.

Die Verbindung von Bühne und Saal ist bei „Minus 16“ stark ausgeprägt – doch auch den ganzen Abend über ist das Miteinander im gut gefüllten Theaterhaus die Klammer der Begeisterung. Das Benefizmotto lautet: „Hand in Hand“. Stuttgarts Kultur ist dem Aufruf der in Istanbul geborenen Schriftstellerin Nilgün Tasman und der Landtagspräsidentin Muhterem Aras (Grüne) gefolgt und tritt an einem Abend der großen Gefühle ohne Gage auf – auch das Technikteam macht ehrenamtlich mit. Das Theaterhaus übernimmt obendrein sämtliche Nebenkosten. Am Ende kommen 13.337,96 Euro zusammen. Der gesamte Erlös geht über drei Hilfsorganisationen in die betroffenen Regionen der Türkei und von Syrien.

Die Politikerin Aras freut sich, dass zur Benefizgala viele Türkinnen und Türken gekommen sind, die nie zuvor im Theaterhaus waren. Sie unterstreicht in einer starken Rede, warum Hilfe weiterhin wichtig bleibt. „Die Türkei und Syrien stehen vor dem Nichts“, sagt sie, „es mangelt an Wasser und Strom. Die hygienische Lage ist verheerend.“ Mit der Hitzewelle im Sommer werde sich die Situation noch mehr verschlechtern. Ihr Dank gilt der Bundesregierung, die, wie von ihr gefordert, die Vereinfachung der Visumvergabe für Erdbebenopfer um drei Monate verlängert hat. Sie dürfen also länger in Deutschland bleiben. Die Krise lasse sich nur überwinden, sagt Aras, „wenn wir alle zusammenstehen, Hand in Hand“.

Eric Gauthier will mit der Kunst des Tanzes „anderen helfen“

Eric Gauthier, der Chef der Theaterhaus-Kompanie, genießt die kulturelle Vielfalt des Abends sehr. „Es ist wichtig, dass wir daran erinnert werden, dass die Menschen in der Türkei und in Syrien weiterhin unsere Hilfe brauchen“, sagt er nach der Vorstellung. Das Leid der Betroffenen dürfe nicht vergessen oder verdrängt werden. „Ich bin jemand, der immer stolz darauf ist, wenn wir die Kunst des Tanzes einsetzen können, um anderen Menschen zu helfen“, erklärt Eric Gauthier. Zum Finale hat er bei Standing Ovations des Publikums Blumen an die beiden Initiatorinnen Nilgün Tasman und Muhterem Aras überreicht.

Auf der Bühne begeistern an diesem Abend der Solidarität Lale Koçgün a cappella und mit dem Instrument Saz, einer Langhalslaute, der Sänger Mohamad Habbal sowie Alan Hamilton und Elliott Carlton Hines von der Staatsoper. Generalmusikdirektor Cornelius Meister weilt in Prag, spielt aber mit gutem Klang via perfekt aufgezeichnetem Video auf der Leinwand des Theaterhauses unter anderem Chopin. Das geht unter die Haut!

„Diese Bilder bekomme ich seither nicht aus dem Kopf“

Nilgün Tasman weiß aus eigenem Erleben, was für Wunden eine Katastrophe auch in den Köpfen verursacht. Im August 1999 bebte die Erde in Gölcük. „Meine ganze Familie lebte nur 19 Kilometer entfernt in dem schönen Ort Karamürsel“, sagte sie, „zwei Tage konnte ich sie nicht erreichen.“ Es waren „die schlimmsten Momente meines Lebens“. Sie flog in die Krisenregion. Ihre Familie war in Zelten untergebracht – es herrschten verheerende Zustände!

„Diese Bilder bekomme ich seither nicht aus dem Kopf“, sagt Nilgün Tasman, „meine Verwandten haben das Erdbeben zum Glück unverletzt überlebt, aber die Wunden und das Trauma tragen mein Neffe und meine Nichte immer noch in sich.“ Sie könne nicht anders, als anderen zu helfen. Als Devise gibt sie für den Benefizabend aus, „nicht traurig zu sein“. Stattdessen sollte man in Deutschland „demütig“ und „dankbar“ sein, „dass wir helfen können“.

Das Stuttgarter Theaterhaus entsendet ein starkes Zeichen der Menschlichkeit.