Armut gibt es häufiger, als man denkt: Die Diakonische Bezirksstelle Ditzingen erweitert deshalb den Begriff der Inklusion – und hilft auch Menschen, die unverschuldet in Not geraten sind.

Ditzingen - Die evangelische Kirche will mehr tun für die Inklusion und die Teilhabe benachteiligter Menschen am gesellschaftlichen Leben – sie will Leben ermöglichen, auch durch Hilfsangebote. Simone Schächterle, die Leiterin der Diakonischen Bezirksstelle in Ditzingen, erklärt ihre Vorstellung von Inklusion. Sie verdeutlicht im Gespräch, wie Menschen unverschuldet benachteiligt sein können – und wie man ihnen helfen kann.

 
Frau Schächterle, Inklusion betrifft nicht nur die Menschen, die man früher als Behinderte bezeichnet hat. Inklusion bedeutet übersetzt „Leben ermöglichen“, oder?
Die Landeskirche und die Diakonie haben den Begriff erweitert. Wir beschränken seine Bedeutung jetzt nicht mehr auf Menschen mit Behinderung wie früher, sondern fassen ihn sehr viel weiter.
Zu Ihnen kommen Menschen in Not. Welche Rolle spielen Schicksalsschläge wie Krankheit, Behinderung, Tod des Partners, Arbeitslosigkeit? Oder gibt es noch mehr?
Trennung kommt noch hinzu. Auch Schulden sind ein großes Thema. Das ist eine Komponente aus Vielerlei und manchmal auch kein Schicksalsschlag – wenn man zum Beispiel unverschuldet in Schulden hineinrutscht, wie nach einem Unfall, an dem ein anderer schuld ist.
Welches sind denn die Hauptthemen bei Ihrer Beratung?
Arbeitslosigkeit oder die Tatsache, dass das Geld einfach zum Leben nicht ausreicht. Armut ist ein großes Thema, das sich durch alle Beratungsangebote zieht, und das oft in Kombination auftritt. Zum Beispiel, wenn jemand krank ist und deswegen nicht arbeiten kann. Oder wenn jemand wegen eines behinderten Kindes nicht oder nicht voll arbeiten kann.
Ist Bildung nicht das noch größere Problem, das hinter Armut steckt?
Nicht unbedingt. Viele Menschen haben eine gute Ausbildung oder lange gut gearbeitet, zum Beispiel als Handwerker. Sie werden dann mit Ende 50 plötzlich arbeitslos, weil der Arbeitgeber insolvent ist. Wenn die Ersparnisse aufgebraucht sind, sind diese Menschen bei Hartz IV. Und das ohne andere Probleme wie etwa Sucht. Man rutscht dann recht schnell ab.
Das Annehmen von Menschen, die nicht viel Geld haben, ist doch auch Inklusion.
Klar. Gesellschaftliche Teilhabe sollte auch ohne hohe Kosten möglich sein. Zum Beispiel das Gemeindefest: Wenn da das Schnitzel mit Pommes pro Person 8,50 Euro kostet, sind mit Getränken für fünf Menschen 50 Euro weg. Das ist so schon für viele Familien wenig attraktiv. Wer wenig Geld hat, nimmt dann nicht daran teil.
Und ist damit ausgeschlossen.
Genau. Die Finanzierung des Gemeindefestessens auf Spendenbasis ist eine Alternative und ein inklusiver Ansatz.
Gibt es noch mehr Ideen?
In Ludwigsburg haben wir einen Begegnungstreff installiert, ein offenes Angebot zum Kaffeetrinken, zum Treffen und Gespräch am Nachmittag, direkt am Marktplatz. Da mischen sich Passanten unter unsere Klienten. Das ist die Weiterführung der Vesperkirche unterm Jahr. Für uns heißt Inklusion auch, am kulturellen Leben teilnehmen zu können, zum Beispiel an Ausflügen.
Inklusion heißt auch, Menschen mit ihren jeweiligen Begabungen zu akzeptieren.
Richtig. Einmal haben wir gemerkt, dass einer unserer Klienten ein großes Wissen über Kräuter hat. Er hat einer Ausflugsgruppe von uns dann im Blühenden Barock sehr viel dazu erklärt. Ein anderer kennt sich unheimlich gut aus in Marbach. Er hat für uns eine Stadtführung gemacht. Wir versuchen, das Potenzial von Menschen zu erkennen und zu fördern.
Sie haben jüngst die Präsenz der Beratungsstelle in Ditzingen verbessert. Was bedeutet das in der Praxis?
Es ist jetzt jeden Werktag jemand da, niemand muss vor verschlossener Tür stehen, der Erstkontakt ist auf jeden Fall möglich. Zum Beispiel neulich: Da stand eine Frau vor der Tür; ihr Mann war Knall auf Fall ausgezogen, ein Alleinverdiener, jetzt hatte die Frau plötzlich kein Geld mehr. Dann müssen wir schnell organisieren. Bei anderen verweisen wir rasch an Fachberatungsdienste. Wir wissen, wer was kann.
Und Sie ermutigen die Leute, weiterzugehen.
Genau so. Wir machen die Menschen beratungsfähig – beispielsweise, wenn einer morgens um Zehn nach Alkohol riecht. Dann muss ich schauen, wie ich den in die Suchtberatung bekomme.
Was hat sich im Vergleich zu früher im Beratungsalltag verändert?
Die schwierigen Situationen nehmen zu – etwa, wenn Mitarbeiterinnen beschimpft oder gar bedroht werden.
Gibt es auch neue Angebote?
Wir haben eine neue Teilzeitstelle für Menschen mit Suchterkrankung. Diese ist für drei Jahre zu zwei Dritteln von der Aktion Mensch finanziert, den Rest trägt der Kreisdiakonieverband. Diese Stelle hat mit Inklusion zu tun, denn Suchtkranke kommen immer wieder in Existenznot. Die Erkrankung verhindert, ein normales Leben zu führen oder am Leben teilzunehmen.

Die Diakonische Bezirksstelle des Kirchenbezirks Ditzingen ist Mitglied des Kreisdiakonieverbands. In diesen evangelischen Einrichtungen finden Menschen Hilfe in vielen Lebenslagen, vom günstigen Lebensmittelkauf bis zur Beratung bei Schwangerschaft, Ehekrisen, Migrationsproblemen oder Suchtkrankheit.

Simone Schächterle (40) ist Diplom-Sozialpädagogin, sie leitet die Bezirksstelle seit Sommer 2010. Sie hat Hunderten von Menschen Rat gegeben und im Gestrüpp der Behörden weitergeholfen. Schächterle wechselt im Sommer zu einer Einrichtung nach Leonberg. Ihre Stelle wird wiederbesetzt.