Was treibt die Menschen auf die Gipfel der Alpen und anderer Hochgebirge? Ist es der Kitzel der Höhe, der unverstellte Blick, die Nähe zu den Göttern? Oder doch die Suche nach sich selbst?

Unzählige Touristen und Bergsportler wollen jedes Jahr in die Alpen. Allein der Deutsche Alpenverein (DAV), der weltweit größte Bergsportverband, hat fast 1,1 Millionen Mitglieder, von denen über 80 Prozent bergwandern und mehr als 40 Prozent bergsteigen. Jeder neue Skilift und jede zusätzliche Seilbahn erleichtern den einst so mühsamen Aufstieg und begünstigen fragwürdige Massenveranstaltungen wie Popkonzerte oder Modenschauen in luftiger Höhe. Schon vor Jahrzehnten, als alles noch ruhiger in den Alpen war, regten deshalb besorgte Naturschützer wie der Publizist und Fotograf Hans Steinbichler an, Berghütten und Zufahrtswege verfallen zu lassen und so „vor den Alpen wieder die Barriere des Schweißes zu errichten“. Wer die Bergwelt genießen wolle, müsse sich körperlich anstrengen.

 

Ein guter Teil der Bergliebhaber ist bereit dazu. Was bloß treibt Menschen in Scharen die Hänge hoch? Und was zwingt einen kleinen Teil von ihnen sogar hinauf in die Todeszone eisiger Gipfel? Der Bergsteiger, Schauspieler und Regisseur Luis Trenker fand auf diese Fragen eine legendäre Antwort, die er 1938 zum Titel seines Spielfilms über die Erstbesteigung des Matterhorns machte: „Der Berg ruft.“ Doch warum ruft er, und vor allem: wen? Dem Ruf folgen jedenfalls nicht nur Verrückte und Abenteurer. Der Brite George Mallory, der 1924 beim Versuch umkam, den Mount Everest zu erklimmen, hat einmal geäußert, er klettere auf Berge einfach deshalb, weil sie da seien. Das könnte ein Beweggrund für viele Millionen Erdenbürger sein, „aber die Mehrzahl der Menschen besteigt die Berge eben nicht“, gibt Peter Grupp zu bedenken. Der Bonner Historiker ist selbst Bergsteiger und weiß nur zu gut, dass die Bewunderung für die Besseren der Kraxler vermischt ist mit Unverständnis für ihren Antrieb.

Die Japaner verehren bis heute den Fudschijama

„Man erschauert vor den Risiken und Wagnissen, die herausragende Alpinisten eingehen, versteht ihr Tun aber nicht.“ Auch Menschen, die nur ab und an ihre Bergstiefel schnüren und sich mit Steigeisen, Karabinern und Seilen in den Felswänden hocharbeiten, begleite der Ruf, ziemlich „seltsame Gesellen“ zu sein. Lange bevor die ersten Seilschaften die Gipfel ins Visier nahmen, galten diese als Sitze von Gottheiten - längst nicht nur in Europa. Gebirge seien „als Orte, wo sich Himmel und Erde berühren, von einer religiösen Aura umgeben“, schreibt Grupp in seinem Buch „Faszination Berg“ über das Aufkommen des Alpinismus. Wo Sterbliche nur mühsam hingelangen, muss man den Göttern im Himmel einfach nahe sein. Zeus und die anderen Hauptgottheiten der griechischen Mythologie wohnten auf dem fast 3000 Meter hohen Olymp. Die Japaner verehren bis heute den Fudschijama und die australischen Ureinwohner den nicht minder berühmten Uluru (Ayers Rock).

Moses empfing von Gott die Zehn Gebote auf dem Berg Sinai. Mancherorts krallen sich sogar Klöster an die Felswände oder thronen auf Vorsprüngen: Der Berg Athos ist ein Beispiel dafür. Auch die Alpen wurden von früheren Kulturen als heilig gepriesen, wirkten aber auch unheimlich. Bergdrachen, Geister und Dämonen schienen dort ihr Unwesen zu treiben, wo immer wieder der Donner durchs Gebirge grollte, Gletscher ächzten und Sturmgeheul die Nerven plagte. Besser also, man hielt sich fern davon. Außer freilich, man wollte Gott im Himmel möglichst nahe sein, so teuflisch der Aufstieg auch sein mochte. Zu jeder Zeit gab es allerdings Menschen, die den mühsamen Gang ins Gebirge wagten, auch ohne dass eine Arbeit in den Bergen sie dazu zwang oder ein Gott sie nach oben rief. So mancher forscht in der Höhe eher nach einem verborgenen Lebenssinn oder nach einer anderen Sicht auf sich selbst.

Sieht man vom verständlichen Hochgefühl ab, das auch bequemere Menschen ergreift, wenn sie nach einer Seilfahrt mit der Bergbahn über die Spitzen eines Gebirges schauen, dürfte hier der Schlüssel zur Antwort nach dem Motiv so vieler Alpinisten zu finden sein: Wer sich die Strapazen und Lebensrisiken des Kletterns aufbürdet, sucht das Eigentliche womöglich weniger auf dem Gipfel als in der Tiefe seiner Persönlichkeit. „Wir wünschen uns, dass das Glück uns in den Schoß fällt, und sind doch am meisten stolz auf das, was wir unter Mühen und Entbehrungen erreichen“, urteilt der Bergführer und Psychologe Martin Schwiersch aus dem Allgäu. Die Aussicht von einem per Seilbahn erreichten Gipfel „mag uns überwältigen, der eisige Wind dort oben frösteln lassen, doch können wir uns keiner Leistung rühmen“. Fürs wahre Gipfelgefühl müsse die Bergspitze aus eigener Kraft erreicht werden. Wer oben anlange, gelte als stark und mutig, reif und souverän, mächtig und intelligent.

„Dass der Gipfel das Ziel ist, leuchtet unmittelbar ein“

Der Gipfelstürmer hat schlagartig seinen Selbstwert gesteigert, was mitunter als orgastisches Gefühl von Präsenz, Kraft und Lebensfülle erlebt werde. Die triumphale Körpersprache in solchen Momenten ist dem Fernsehpublikum nur allzu gut bekannt: gereckte Hände, Daumen und Eispickel sowie das V-förmige Siegeszeichen aus Mittel- und Zeigefinger. Skurrile Züge trägt bisweilen der Ansturm so vieler verbissen siegeswilliger Menschen hinauf zur felsigen oder eisigen Spitze, selbst auf den Mount Everest und andere Achttausender, am besten natürlich auf alle 14. Manche haken Gipfel ab wie Meilensteine beim Marathon. Es zählt nicht das Klettern, sondern das Ankommen am höchsten Punkt, und koste es das Leben. „Dass der Gipfel das Ziel ist, leuchtet einerseits unmittelbar ein“, findet Schwiersch. Doch dass ein knappes Verfehlen des Gipfels „als vollständiges Scheitern definiert wird - und zwar sowohl von den Bergsteigern selbst wie auch vom breiten Publikum -, scheint mir ein Auswuchs einer Gesellschaft zu sein, in welcher der Zweite bereits der erste Verlierer ist“.

Stiller sind die weniger spektakulären Gipfel, und auch sie können den Bergsteiger glücklich machen. Das Bewusstsein, sich an einem Ort aufzuhalten, „der die meiste Zeit sich selbst gehört“, könne als etwas Heiliges empfunden werden. „Jedenfalls erleben es die meisten Menschen als ungebührlich, auf einem Gipfel dauernd zu lärmen“, urteilt der 55-jährige Psychotherapeut. Typisch sei dort oben eine gedämpfte Atmosphäre: selten ein lautes Wort, keine hektischen Bewegungen, eher sitzen, schauen, zurückhaltend miteinander reden. Dann endlich ist Zeit, die Augen umherwandern zu lassen. Die Aussicht vom Gipfel unterscheidet sich von anderen dadurch, dass sie vollkommen unverstellt ist. Man hat buchstäblich den Überblick und verliert sich ein wenig im Wechselspiel von Weite und Nähe. Dadurch fühle sich der Mensch „zentriert - und damit nicht in den Weiten des unumschränkten Horizonts verloren, wie es vielleicht auf dem Meer sein könnte“. Die Enttäuschung folgt freilich auf dem Fuß, sobald man wieder unten ist. Diese Ernüchterung werde, so Schwiersch, „am besten durch eine neue Bergtour gelindert“. Die ausgelüfteten Bergstiefel warten ja schon.