Ein Unaussprechlicher geht um beim Festival. Ein sperriges ungarisches Liebesmärchen bereitet Freude, ein US-Familiendrama Depressionen und der Schotte Danny Boyle ein Déjà-vu der ganz besonderen Art.

Berlin - Der aktuelle US-Präsident Donald Trump dominiert die Nachrichten, und sie klingen selten gut für alle Nichtamerikaner, die nicht weiß sind. Filmfestivals, die es mit der Kunst ernst meinen, sind Spiegel der Gegenwart – und der Berlinale-Chef Dieter Kosslick hat beschlossen, den Omnipräsenten zumindest so weit von der Agenda zu verbannen, dass er seinen Namen nicht mehr ausspricht. Joanne K. Rowling ersann dafür einen Trick in ihren Harry-Potter-Büchern: Den Schwarzmagier, der seinen Anhängern verspricht, die Zukunft gehöre ihnen allein, nennen die Nichtanhänger nur Sie-wissen-schon-wer.

 

Bei der Pressekonferenz zum US-Wettbewerbsbeitrag „The Dinner“ von Oren Moverman wird Richard Gere am Freitag gefragt, wen er als Gastgeber eines vierköpfigen Dinners einladen würde, wenn Sie-wissen-schon-wer als Gast gesetzt wäre. Antwort: „Zu diesem Dinner würde ich nicht gehen.“ Der Brite Steve Coogan („Philomena“), nach dem Geisteszustand seiner psychotischen Filmfigur befragt, sagt: „Er hat schon einen Hau. Aber verglichen mit dem Zustand der Welt ist es höchstens ein leichter Kopfschmerz.“

Richard Gere spielt den Kongressabgeordneten Stan, der auf Wahlkampftour ist und gerade um eine Gesetzesvorlage kämpft. Doch sein Sohn hat mit dem Sohn seines Bruders Paul (Coogan), beide sechzehn, eine Obdachlose angezündet. Paul war Geschichtslehrer, bis er suspendiert wurde, weil er desinteressierte Schüler beschimpfte.

Ein Dinner wird zum verbalen Gemetzel

Ein Dinner mit den Ehefrauen soll Klarheit bringen, wie mit den Jungs zu verfahren sei: Aussitzen, sich stellen? Es wird ein verbales Gemetzel, in dem alle abwechselnd so scheinen, als taugten sie zu Sympathieträgern – doch dieser Eindruck täuscht. Stan klingt erstaunlich selbstlos für einen Politiker, bis er hemmungslos zutritt, Paul gibt einen Woody-Allen-artigen Zyniker, ehe er alle und jeden beschimpft, Claire (Laura Linney) wirkt wie eine treusorgende Frau, bevor sie ihren kleinen Sünder mit Zähnen und Klauen verteidigt, und Kate (Rebecca Hall) kämpft für ihren Lebensinhalt als Stiefmutter und Vertretung für einen meistens abwesenden Vater. In Rückblenden leitet Moverman das Scheitern der Erziehungsberechtigten her, das Fehlen positiver Vorbilder.

Wenn es darauf ankommt, sind alle Egoisten – ein pessimistisches Menschenbild transportiert der Film, das Trauma der Bürgerkriegsschlacht in Gettysburg ist ein zentrales Motiv. Von der „amerikanischen Erbsünde“ spricht der israelische Filmemacher Moverman vor der Presse, der 2009 mit dem Irakkriegs-Veteranen-Drama „The Messenger“ den Silbernen Drehbuch-Bären bekam. Diese Stringenz hat sein aktueller, sehr dialoglastiger Film nicht. Immerhin erinnert „The Dinner“ an den gesellschaftskritischen Geist der Filme des New Hollywood der 1970er Jahre, der rar geworden ist in einer Filmindustrie, die vor allem glatten, familientauglichen Mainstream hervorbringt.

„Früher waren die Filme doch viel erwachsener“, wetterte schon am Donnerstag der niederländische Regisseur Paul Verhoeven („Total Recall“, „Basic Instinct“), der Präsident der diesjährigen Berlinale-Jury, über die aktuelle Traumfabrik. Er erinnerte an Elia Kazans beinhartes Hafenarbeiterdrama „Die Faust im Nacken“ von 1954 und konstatierte: „Heute ist alles jugendfrei und es spielt keine Rolle mehr, ob ein Film ein seriöses Thema hat, Hauptsache, er spielt Geld ein.“

Eine verliebte Autistin trainiert mühsam, Nähe zuzulassen

Er dürfte sich über den ungarischen Wettbewerbsbeitrag „Body and Soul“ von Ildikó Enyedi freuen. Zwei Beeinträchtigte knüpfen da zarte Liebesbande in dem Schlachthaus, in dem sie arbeiten – und sie stehen sich vor allem selbst im Weg. Der freundliche Chef Endre hat wegen seines lahmen Arms alle Hoffnung auf Zweisamkeit aufgegeben und eine geringe Frustrationstoleranz, die gereifte Autismus-Patientin Maria war wegen ihrer Berührungsangst noch nie mit einem Mann intim, lebt in einer Art pedantisch aufgeräumtem Kinderzimmer und spielt nach jeder zwischenmenschliche Begegnung zu Hause analytisch die Aufstellung mit Salzstreuern oder Playmobil-Männchen nach.

Es ist ein Genuss, der Hauptdarstellerin Alexandra Borbély dabei zuzusehen, wie sie Maria mühsam darauf trainiert, Nähe zulassen zu können, wie ihr Körper Abwehr signalisiert und sie umso intensiver mit den Augen kommuniziert – sie hat Chancen auf den Silbernen Bären für die beste Darstellerin.

Ein Film über „heimliche Leidenschaften in uns allen“ sei das, sagt Enyedi, die den unendlich langen Weg dieses Paares mit Witz und Tiefe inszeniert hat, ohne das Autismus-Thema je explizit benennen zu müssen. Dafür bindet sie den blutigen Arbeitsalltag im Schlachthaus dramaturgisch ein, der niemanden kaltlässt– schon gar nicht die Zuschauer. Der Clou aber ist eine wiederkehrende Traumsequenz, von der die Liebenden zufällig herausfinden, dass sie sie teilen – als platonisches Hirsch-Paar in der Stille des ungarischen Winterwaldes. Und Sie-wissen-schon-wer spielt hier einmal überhaupt keine Rolle.

Danny Boyle hat sich mit Ewan McGregor versöhnt

Genausowenig wie bei einem weiteren Film über dumme Jungs, allerdings solche mit stark verlängerter Adoleszenz: Außer Konkurrenz zeigt die Berlinale Danny Boyles „T2 Trainspotting“, die Fortsetzung seines collagehaften, künstlerisch wegweisenden Heroindramas von 1996. Manche mag das überraschen, denn der Schotte Boyle gehört zu den Regisseuren mit starker eigener Handschrift und hat inzwischen einen Oscar (2009 für „Slumdog Millionaire“) – doch die die zutiefst schottische Geschichte nach Erzählungen des schottischen Autors Irvine Welsh lag ihm offenbar so sehr am Herzen, dass er sich dafür mit dem schottischen Star Ewan McGregor („Star Wars I – III“) versöhnte; der hatte Boyle übelgenommen, dass dieser nach vier gemeinsamen Filmen bei „The Beach“ dem Amerikaner Leonardo DiCaprio die Hauptrolle gab.

Nun also kehrt er als Renton nach rund zwanzig Jahren zurück nach Edinburgh und zu seinen früheren Freunden, die er damals um ihren Anteil von 16 000 Pfund Drogengeld geprellt hatte. Das gibt natürlich erstmal Ärger, doch es tun sich auch ungeahnte Möglichkeiten auf, die vor allem mit einer jungen bulgarischen Hure zu tun haben. „Sick Boy“ (Johnny Lee Miller) benützt jetzt seinen bürgerlichen Namen Simon und ist ein erfolgloser Kleingauner, Spud (Ewen Bremner) hängt zunächst noch an der Nadel, der cholerische Gewalttäter Begbie (Robert Carlyle) findet einen Weg aus dem Knast und sinnt auf Rache.

Beim Thema Brexit werden die Schotten ernst

Rückblenden verweben den Film eng mit dem Original, McGregor hält noch einmal seinen „Choose Life“-Monolog, der nun so hohl und leer klingt, dass Renton beinahe die Tränen kommen. Boyle zieht alle Register in einer weiteren großartigen, wilden Montage mit viel Hochenergiemusik. Auch das Drehbuch stimmt bis hin zu einer sehenswerten Pointe – nur ein Sinn ist nicht zu erkennen: Wo Mittzwanziger noch das ganze Leben vor sich haben, wirken Mittvierziger doch arg gescheitert.

„Dieser Film ist viel persönlicher“, sagt Boyle vor der Presse. „Es geht um ums Älterwerden, um Männlichkeit.“ „Es ist eher eine Art Autopsie als eine Fortsetzung“, glaubt Johnny Lee Miller. „Der erste Film entsprach genau dem Zeitgeist, das schafft man nicht zweimal.“ Beim Thema Brexit werden alle ernst. „Schottland hat viel gewonnen durch das geeinte Europa, ein Gefühl der Freiheit – Renton konnte damals einfach nach Amsterdam gehen“, sagt Bremner. Und Boyle erklärt: „Meine Kinder sind als Europäer großgeworden und jetzt enttäuscht, dass so ein Referendum zur Protestabstimmung wird. Ich glaube, wenn noch einmal abgestimmt würde, käme es zu einem anderen Ergebnis.“