Unterdrückte begehren auf, Frauen fordern ihr Recht ein: Die Wettbewerbs-Jury hat salomonisch entschieden – und politisch, wie es dem Ruf des Festivals entspricht.

Berlin - Die Tränen sind echt, die Frauen und Männer aus dem Iran überwältigt vom tosenden Applaus im Berlinale-Palast. Ihr Film „Es gibt kein Böses“, gedreht unter schwierigsten Bedingungen mit dem Regisseur Mohammad Rasoulof, hat gerade den Goldenen Bären gewonnen. „Dieser Preis ist für ihn“, ruft Rasoulofs Tochter Baran auf der Bühne – sie vertritt ihren Vater, der wie viele kritische Künstler im Iran unter Hausarrest steht und nicht ausreisen darf. Baran lebt mit ihrer Mutter in Deutschland und spielt in einer Episode den familiären Konflikt nach: Wenn der Vater sich dafür entscheidet, das moralisch Richtige zu tun, entscheidet er sich zugleich dagegen, mit seiner Tochter leben zu können. „Es gibt keine Mauern auf dieser Welt, die die Vorstellungskraft aufhalten können, Ideen, den Glauben oder die Liebe – sie reicht überall hin“, sagt auf der Bühne der Produzent Kaveh Farnam. „und nur das Leben der Diktatoren wird durch diese Mauern kleiner und kleiner.“

 

Es ist ein großer Berlinale-Moment, der mit dem Festival verknüpft bleiben wird. So wie der Jury-Stuhl, den das Festival 2011 freihielt für den ebenfalls festgesetzten Jafar Panahi. Die als besonders politisch geltende Berlinale und iranische Filmemacher haben einander viel zu geben. Da zeigt sich, was der n Moderator Samuel Finzi eingangs als Geist des Festivals beschworen hat: „Austausch, Begegnung, Solidarität.“ Die neue Leitung, Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek, hat den Schauspieler als Nachfolger von Anke Engelke berufen, die zumindest punktuell die deutsche Gala-Steifigkeit aufbrechen konnte. Finzi zeigt zwar Andeutungen seines Lausbubengrinsens, kommt aber über die üblichen Lobreden kaum hinaus.

Was Frauen umtreibt

Nicht minder politisch als „Es gibt kein Böses“ ist der Film der Amerikanerin Eliza Hittman, die den Großen Preis der Jury bekommt für ihr Drama „Never Rarely Sometimes Always“. Wie Freiwild fühlen sich die 17-jährigen Protagonistinnen auf der Suche nach einer Abtreibungsmöglichkeit, während sie übergriffige Männer aller Art abwehren. „Wünschst du dir nie, ein Kerl zu sein?“, fragt Skylar. „Immer“, antwortet Autumn. Hittman dankt ihren jungen Schauspielerinnen: „Sie sind an ein sehr kompliziertes Thema herangegangen mit einer Reife, die unglaublich ist für ihr Alter.“ Und sie dankt Ärzten, Krankenschwestern und Sozialarbeitern, „für den Schutz der Rechte aller Menschen, die eine Gebärmutter haben.“

Was Frauen umtreibt, wenn sie unter sich sind, zeigt der Koreaner Hong Sang-soo in „The Woman who ran“. Er hat Dialoge zwischen alten Freundinnen auf den Punkt formuliert, mit unterschwelligen Konflikten gespickt und auch sehr feinfühlig inszeniert. Der Regie-Bär für ihn ist auch einer für die Frauen, und er bittet seine Hauptdarstellerinnen von der Bühne aus, aufzustehen, damit auch sie ihren verdienten Applaus bekommen.

Paula Beer gibt sich bescheiden

Aus deutscher Sicht erfreulich ist der Silberne Bär für Paula Beer als bester Darstellerin. Sie spielt in Christian Petzolds „Undine“ eine Frau mit einem Fluch, die zwischen totaler Hingabe und Vernichtung schwankt. Das gelingt der erst 25-Jährigen mit derselben Wahrhaftigkeit, mit der sie in Francois Ozons Nachkriegsdrama „Franz“ zu sehen war und in der Serie „Bad Banks“. Beer widmet den Preis ihrem Filmpartner Franz Rogowski: „Man kann immer nur so gut sein wie sein Gegenüber, Franz ist der wundervollste Spielmann, den man sich wünschen kann“, sagt sie. „Ein Liebespaar zu spielen das Schönste und das Schwierigste.“

Bei den Herren ist die Lage eindeutig: Ohne je nachzulassen verkörpert der Italiener Elio Germano in „Hidden Away“ die Deformationen und Ticks von Antonio Ligabue, der vor 100 Jahren in der Poebene vom Ausgestoßenen zum angesehen Kunstmaler aufstieg. Im realen Leben ist Germano ein schmucker junger Mann.

Salomonisch erscheint das Urteil dieser Jury. Der Drehbuch-Bär für die italienischen Brüder Fabio und Damiano D’Innocenzo („Bad Tales“) geht ebenso in Ordnung wie der Jubiläums-Bär für die französischen Filmanarchisten Benoît Délépine und Gustave Kervern („Effacer l’historique“). Beide erzählen Vorstadtdramen von Ernüchterung und geplatzten Träumen, die einen als aufgeladenes Drama, die anderen als Gelbwesten-Satire.

Eine kleine Verwerfung gibt es aber doch: Man sei gespalten gewesen „in Fragen der Moral und der Methodik des Eintauchens“, sagt Jury-Präsident Jeremy Irons – und überreicht dem Kameramann Jürgen Jürges den Silbernen Bären für eine besondere künstlerische Leistung. Jürges ist fast 80, er war schon mit Rainer Werner Fassbinder zugange und hat nun „DAU. Natasha“ ins Bild gesetzt – ein Projekt, das fragwürdig erscheint.

Missbrauchsvorwürfe trüben die Bärenfreude

Drei Jahre lang hat das Team um den Regisseur Ilya Khrzhanovskiy in einer eigens errichteten sowjetischen Stadt in der Ukraine gelebt wie zur Stalin-Zeit. Im Rahmen dieser „Performance“ entstand der Film, in dem trinkfreudige Kellnerinnen einander beharken und ein realer Ex-KGB-Mann eine Gepeinigte beim Verhör dazu zwingt, eine Flasche in ihre Vagina einzuführen. Welche Aussage das haben soll über die reine Provokationsabsicht hinaus? Jürges dankt schmal, Khrzhanovskiy hat auch gemauert. Ihn ereilten während der Berlinale schwere Missbrauchsvorwürfe. 2018 wollte er als nächstes Projekt in Berlin ein Stück der Mauer wieder errichten. Das wurde ihm verwehrt – zum Glück, wie man nun ahnt.

Für diesen Bären hätte es eine Alternative gegeben: die atemberaubende Montage aus Bild und Ton im düsteren Drama „Berlin Alexanderplatz“, das Flüchtlingsrealitäten an einem historischen Roman verdeutlicht. Der Protagonist scheitert, weil sein Ego größer ist als seine Sehnsucht nach Menschlichkeit. Diese Sehnsucht hat die Berlinale auch diesmal geprägt. Die Tränen jedenfalls waren echt.