Auch diese Corona-Berlinale, die im Juni fortgesetzt wird, ist politisch – und sie hat in ihrem ersten Teil manches zutage gefördert, das sonst im Trubel untergeht.

Stuttgart - „Wir sind Ursache und Lösung“, sagt der Regisseur Marc Bauder. In seinem Dokumentarfilm „Wer wir waren“ stellt er die Existenzfrage: Wird die Menschheit überleben? Der Astronaut Alexander Gerst blickt von der ISS auf die Erde, die Meeresforscherin Sylvia Earle in die Tiefen des Ozeans, der buddhistische Mönch Matthieu Ricard von einem Berg in Nepal. Alle sind sich einig: Es muss sich viel ändern. Die Ökonomen Dennis Snower (USA) und Felwine Sarr (Senegal), aus grundverschiedenen Sphären, sind sich bei den Lösungen ganz nah. Es gehe ihm „nicht um Utopien“, sagt Bauder, „sondern um Realitäten“.

 

Klassenkampf absurd

Sein Film ist nur einer von vielen, die auch diese Berlinale wieder zum politisch aufgeladenen Festival machen. Der Goldene-Bären-Gewinner Radu Jude zeigt die desolaten Zustände in seiner Heimat Rumänien als schwarze Satire. Der deutsche Regisseur Julian Radlmaier schafft es in der dadaistischen Vampir-Farce „Blutsauger“, Kapitalismuskritik und Klassenkampf auf absurde Art in die Gegenwart zu holen: „Das ist natürlich sehr ärgerlich, mit Faschisten hätte man wenigstens reden können“, sagt da Corinna Harfouch als Fabrikantin des Jahres 1928, die erfährt, dass es Kommunisten sind, die einen Betriebsrat gründen wollen. „Kann man die nicht erschießen lassen?“

Zum Phantom wurde Kevin Macdonalds Guantanamo-Drama „The Mauritanian“ mit Jodie Foster und Benedict Cumberbatch: Der Stream war in Deutschland gesperrt. Die Berlinale nimmt das hin, damit im Juni die Stars ihr Publikumsevent illuminieren – den das Studio benutzt, um kurz vor Start für den Film zu werben. Dieser erste, nicht öffentliche Teil der Corona-Berlinale hat deutlicher gezeigt, was sonst leicht im Trubel untergeht.

In der Vorhölle von Hongkong

Erschreckendes offenbart sich manchmal durch die Blume. Der englische Begriff „Limbo“ steht für „Zwischenwelt“, im Katholizismus ist der „Limbus“ die Vorhölle. Wie selbige fühlt sich das Hongkong an, in dem der Regisseur Soi Cheang sich bewegt: In auskomponierten Motiven und gestochen scharfer Schwarz-Weiß-Ästhetik präsentiert er Wüten in einem vermüllten Moloch drogenabhängiger Schönheiten und brutaler Gangster, in dem ein wüster Frauenmörder umgeht. Zwei Polizisten jagen den Psychopathen, und es ist bemerkenswert, wie gut hier die Regeln des Rechtsstaats greifen – der Hongkong offiziell noch ist.

Manches ist auch einfach nur schön. Für alle zugänglich war die Reihe „Berlinale Talents“, in der Filmschaffende dem Nachwuchs Einblicke geben – etwa der deutsche Szenenbildner Uli Hanisch. Er lässt für „Babylon Berlin“ die 1920er Jahre wieder auferstehen, die vierte Staffel wird gerade produziert. Per Video sprach er über die fast komplett in Berlin gedrehte Netflix-Miniserie „Das Damengambit“ und darüber, wie er Anya Taylor-Joy als Schach-Genie Beth Harmon eine fantastische 60er-Jahre-Kulisse erschaffen hat. Diese „verlorene Seele“ habe ihn fasziniert, wenn man durch ihre Augen schaue, werde alles „besonders“, sagt er. Die Szenerie sei wie Beth „ein bisschen märchenhaft entrückt“. Die Serie ist ein weltweiter Hit, Hanischs Szenenbild längst Kult. „Die Leute analysieren die Tapeten, das ist mir noch nie passiert!“, sagt er und gibt zu, dass er Tapeten liebt: „Jedes Muster erzählt eine Geschichte.“ Was da an den Wänden klebt, ist unglaublich, dazu kommen Vorhänge, Teppiche, Mobiliar wie Freischwinger-Sessel. „Was wir gemacht haben, ist noch moderat“, sagt Hanisch, „in den Magazinen von damals ist alles viel übertriebener.“ Er erklärt, wie er mit der Architektur spielt und Räume streckt, wie er Hotelzimmer und Schachturnier-Hallen in Las Vegas und Moskau mit einem Farbkonzept unverwechselbar dekoriert hat. „Die Amerikaner waren erstaunt, was wir hier alles machen können“, sagt Hanisch. Sein mit Entwürfen und Bildern unterfüttertes Interview steht im Netz auf Youtube.

Tapeten erzählen Geschichten