Hustenattacken während einer Aufführung, Nasenbluten oder gar ein Herzinfarkt – das sind Einsätze für Antje Lätzer. Die Neurochirurgin arbeitet nebenbei für die Schlossfestspiele. Im Interview spricht sie über Notfälle, Bienenstiche und flüchtendes Publikum.

Region: Verena Mayer (ena)

Ludwigsburg - Angekündigt werden sie immer, einen Auftritt haben sie selten: die Ärzte, die im Auftrag der Ludwigsburger Schlossfestspiele für das gesundheitliche Wohlbefinden des Publikums zuständig sind. Antje Lätzer arbeitet als ehrenamtliche Theaterärztin und koordiniert die Einsätze ihrer rund 20 Kollegen. Als Lohn bekommen sie eine Eintrittskarte für die Aufführung. Klingt nach nicht viel, wenn man weiß, was alles hinter einem Einsatz steckt. Andererseits, wer Antje Lätzer zuhört, ahnt: Mit Geld wäre die Arbeit kaum aufzuwiegen.

 
Frau Lätzer, sind Sie Theaterärztin geworden, weil Sie besonders gut Lampenfieber kurieren können?
Ich weiß nicht, ob ich das kann, aber manchmal habe ich schon den Eindruck, dass die Künstler sich sicherer fühlen, wenn der Theaterarzt da ist. Bei Akrobaten oder Balletttänzern besteht ja schon ein gewisses Verletzungsrisiko. Letztes Jahr haben sich Künstler in der Karlskaserne extra einen Sportarzt als Theaterarzt gewünscht.
Oder sind Sie womöglich Theaterärztin geworden, weil Sie als solche gratis ins Theater kommen?
Ich bin schon immer gerne ins Theater gegangen. Ich hatte gerade das Studium beendet, als ich am Klinikum von der Institution Theaterarzt erfuhr – das fand ich so toll, dass ich das unbedingt machen wollte. Damals war ich noch arm wie eine Kirchenmaus und habe mich doppelt über das Angebot gefreut.
Können Sie eine Aufführung genießen, wenn Sie in Bereitschaft sind?
Absolut! Zum Glück passiert relativ wenig. Außerdem tragen wir keine Arbeitskleidung, sehen also aus wie ein ganz normaler Zuhörer. Das einzig auffallende an mir und meinen Kollegen ist der Koffer. Interessant übrigens: Vor vielen Jahren war ich hochschwanger als Theaterärztin in einem Konzert. Als es einen Einsatz gab, kam einer gerannt – und schnappte meinen Mann, unter dessen Platz der Koffer stand. Der Mann ist immer der Arzt.
Was haben Sie in Ihrem Koffer?
Viele Medikamente. Zum Beispiel für Leute, die eine Herzattacke haben oder plötzlich einen zu hohen Blutdruck. Hustentropfen und Nasentropfen sind auch ganz wichtig. Manche Gäste husten sich während einer Veranstaltung schier zu Tode, das ist ihnen peinlich. Außerdem habe ich Pflaster, Mullbinden und Notfallmedizin für Diabetiker und Asthmatiker dabei.
Haben Sie als Theaterärztin schon mal einen schlimmen Notfall gehabt?
Ich selbst zum Glück nicht. Ich habe aber von einem Patienten gehört, der während einer Vorstellung einen Herzinfarkt erlitten hat und daran auch gestorben ist. Und einer meiner Kollegen musste mal eine üble Platzwunde versorgen, weil eine Frau die Treppe hinuntergefallen war.
Was war Ihr schlimmster Einsatz?
Das war beim K lassik Open-Air am Monrepos vor einigen Jahren. Das ist inzwischen so eine Massenveranstaltung geworden, dass immer bis zu sechs Theaterärzte im Einsatz sind. Als wir das erste Mal zu sechst dort waren, wurde immer der Arzt zu einem Einsatz gerufen, der auf der Dienstliste ganz oben stand – das war dummerweise ich. Ich bin aus dem DRK-Zelt quasi gar nicht mehr raus gekommen, und meine Medikamente waren am Schluss auch aufgebraucht. Von der Veranstaltung habe ich nichts mitbekommen. Inzwischen haben wir den Einsatz anders organisiert. Nun ist jede Sektion einem bestimmten Arzt zugeordnet, der im Notfall gerufen wird. Damit ist die Arbeit ungefähr gleichmäßig verteilt.
Haben Sie auch eine schöne Erinnerung?
Zumindest eine lustige: Vor einigen Jahren wurde mir während des Klassik Open-Airs ein Patient mit Bienenstich und ganz starker allergischer Reaktion angekündigt. Ich war ganz aufgeregt, weil ich mir ausgemalt habe, dass ich den Patienten womöglich intubieren muss. Das hatte ich seit dem Studium nicht mehr gemacht, hatte also keine Routine. Naja, letztlich handelte es sich bei dem Patienten mit der höchst allergischen Reaktion um ein Kind, das von einer Biene gestochen worden war und nun einen kleinen Hubbel am Arm hatte.
Bei den Schlossfestspielen gibt es rund 50 Veranstaltungen – aber keine 50 Theaterärzte. Wie verteilen Sie die Einsätze?
Einige Wochen vor Saisonstart hänge ich die Liste mit den Veranstaltungen aus, da können sich die Kollegen eintragen. Es gibt immer Konzerte, die weg gehen, wie warme Semmeln. Und es gibt immer welche, wo ich mich wundere, warum die keiner will.
Was passiert, wenn sich nicht genügend Ärzte in die Liste eintragen?
Ich gebe den Schlossfestspielen Bescheid, die dann versuchen, selbst eine Lösung zu finden. Ich bin aber schon dahinter her, dass jede Veranstaltung besetzt ist. Ich habe zum Beispiel einen sehr netten Kollegen, der nimmt bewusst die Karten, die sonst keiner will. Es kann sein, dass er drei Abende hintereinander als Theaterarzt im Einsatz ist. Das finde ich wirklich toll.
Was macht einen guten Theaterarzt aus?
Er muss vor allem zuverlässig sein und seinen Dienst im Theater wie jeden anderen Dienst machen. Er kann nicht einfach sagen: Ich kann jetzt doch nicht. Es gab mal einen Kollegen, der hat sich die acht schönsten Termine ausgesucht und sich mit Ellbogen an die Liste gedrängelt – und dann hat er bei vier oder fünf abgesagt oder ist gar nicht erschienen. Das ist ärgerlich.
Was macht ein guter Theaterarzt, wenn das Publikum in Scharen aus dem Saal strömt?
Ignorieren. Ich bleibe immer bis zum Schluss. Das ist verpflichtend. Ebenso wie die Anwesenheit 20 Minuten vor Beginn.
Kommt ein Publikumsauszug oft vor?
Das habe ich in den letzten Jahren gar nicht mehr erlebt. Als der Intendant Thomas Wördehoff neu war, sind manchmal etliche Leute gegangen. Wördehoff hat ein anspruchsvolles Programm, er macht nicht so Mainstream. Aber ich habe den Eindruck, dass das Publikum viel offener gewordener ist und die Veranstaltungen annimmt.
Haben Sie bei einem Einsatz schon mal einen Künstler entdeckt, den Sie sonst eher nicht kennen gelernt hätten?
Schon oft! Ich habe schon viele Sachen zwei oder drei weitere Male besucht, weil sie mir bei einem Einsatz so gut gefallen haben. Das Blechbläserensemble Mnozil Brass zum Beispiel finde ich großartig. Und vom Violinspiel des Finnen Pekka Kuusisto neulich in der Musikhalle bin ich noch immer total begeistert.
Was ist nun mit dem Lampenfieber, haben Sie dagegen ein Rezept?
Ich finde, Lampenfieber ist wichtig, damit die Darsteller die richtige Vorspannung haben. Es bündelt alle Energie, sodass bei der Aufführung der Funke überspringen kann. Das beste Rezept gegen Lampenfieber haben die Darsteller selbst: gute Vorbereitung. Das gibt innere Sicherheit.

Musik und Medizin

Person
Antje Lätzer, 51, hat in Jena Medizin studiert und arbeitet seit 1995 am Klinikum in Ludwigsburg. Die kulturaffine Fachärztin für Neurochirurgie ist verheiratet und hat zwei Kinder. Zu einem Einsatz als Theaterärztin nimmt sie meist ihren Mann mit, kauft bisweilen aber auch Karten dazu.

Konditionen
Der Einsatz als Theaterarzt ist ehrenamtlich. Die Schlossfestspiele stellen – je nach Preisklasse – eine oder zwei Theaterkarten zur Verfügung, für alles andere muss der Theaterarzt aufkommen. Dazu gehören zum Beispiel die Medikamente und eine separate Versicherung.

Einsatzorte
Die Theaterärzte sind bei allen Aufführungen in Ludwigsburg und Umgebung im Einsatz – außer im Forum am Schlosspark. Wegen dessen Größe ist dort seit jeher das Rote Kreuz engagiert.