Nach viel werbewirksamer Geheimniskrämerei ist jetzt Dan Browns Thriller „Inferno“ auf dem Markt. Den Schlüssel liefert dem Helden diesmal Dantes „Göttliche Komödie“.

Stuttgart - Im Jahre 1927 veröffentlichte der Leipziger Professor Werner Heisenberg in der „Zeitschrift für Physik“, dem damals führenden Fachjournal seiner Wissenschaft, einen aufsehenerregenden Beitrag mit dem harmlos klingenden Titel „Über den anschaulichen Inhalt der quantentheoretischen Kinematik und Mechanik“. Seine zentrale Behauptung sollte später als die Heisenberg’sche Unschärferelation bekannt werden. Vereinfacht man diese hochkomplizierte Folgerung aus der Theorie der Quantenmechanik radikal, geht es im Prinzip darum, dass sich bei einem winzigen Teilchen, dem Quantum, Ort und Geschwindigkeit nicht gleichzeitig bestimmen lassen. Ist die Geschwindigkeit des Teilchens festgelegt, so unterliegt sein Aufenthaltsort dem reinen, puren Zufall. Die Physiker sprechen vom objektiven Zufall. Albert Einstein fand diese Erkenntnis so verstörend, dass er die Theorie lange ablehnte. „Gott würfelt nicht“, sagte er.

 

In der Welt der Verschwörungen, die Thrillerautoren wie Dan Brown erschaffen, darf es hingegen keinen Zufall geben. Romane seines Genres leben davon, dass hochintelligente Bösewichter sämtliche Wendungen und Entwicklungen voraussehen und in ihre Planungen einbeziehen. Die Normalsterblichen sind eingewoben in das Netz genialer Voraussicht, bei der jede Handlung, jeder Hakenschlag des Schicksals, jeder Gedanke und jede Entscheidung bereits in ihren Konsequenzen bedacht worden sind. Die Macht der Bösewichter liegt darin, sich über den Zufall zu erheben. Ihre Planung der Zukunft ist schon allein deshalb so bewundernswert, weil ihren Gegenspielern, den Weltenrettern, unablässig genau dieser Zufall zu Hilfe kommt. Stets tun sich plötzlich rettende Türen auf oder Scharfschützen schießen daneben.

Die Erfolgsformel eines Autors von Verschwörungsthrillern besteht darin, eine Balance zu finden zwischen den unglaublichen Zufällen, die den Romanhelden in den absurdesten Situationen das Leben retten, und dem bis ins Detail ausgearbeiteten Plan des Schurken, die Welt zu zerstören. In Browns jüngstem Werk „Inferno“ heißt es zum Beispiel über einen der Helfershelfer des Bösewichts, den „Provost“: „Alles, was er unternahm, war so orchestriert, dass Zufall und Willkür keine Chancen hatten. Kontrolle war das absolute Fachgebiet des Provosts – für ihn galt nur, jede Möglichkeit und jede Reaktion vorherzusehen und die Realität zum gewünschten Ergebnis zu lenken.“ Seine Zuversicht gerät ins Wanken, als gleich zu Beginn des Romans das Gurren einer Taube eine seiner Agentinnen so sehr ablenkt, dass ihr der Harvard-Symbologe Robert Langdon entwischen kann.

Am Ende setzt sich der wahnsinnige Wissenschaftler durch

Am erstaunlichsten dürfte sein, dass sich in „Inferno“ am Ende nicht der Weltenretter durchsetzt, sondern der wahnsinnige Wissenschaftler. Sein Wahnsinn besteht darin, dass er an die unveränderbare Vorherbestimmung glaubt, die „malthusianische Mathematik“ einer für die Erde untragbaren Überbevölkerung. Dan Brown, der Autor der erfolgreichsten Verschwörungsthriller der Welt, schlägt sich diesmal auf die Seite jener, die meinen, die Zukunft sei nicht offen, sondern steuere auf das Unausweichliche zu. Der Mensch solle deshalb seine Zukunft selbst planen und das Schicksal, den Zufall, eliminieren – sei es auch um den Preis eines gewaltigen Opfers. Sollte Gott wirklich würfeln, müsse man ihm in den Arm fallen. Deshalb wird aus dem Schurken am Ende selbst ein Weltenretter, und Robert Langdon, der Held, versagt letztlich. Zumindest das ist ein interessanter Aspekt eines ansonsten eher mittelmäßigen Buches.

Browns größter Erfolg war „Sakrileg – der Da-Vinci-Code“, in dem Langdon durch den Louvre und die Kirchen von Paris hetzt, verborgene Symbole in Kunstwerken entschlüsselnd, wie er zuvor in „Illuminati“ durch die Gotteshäuser Roms gejagt worden war. „Sakrileg“ erreichte nicht nur eine weltweite Auflage von 50 Millionen Exemplaren, es löste zudem einen Hype um die angeblich geheimen Botschaften in Leonardo da Vincis „Mona Lisa“ aus. Brown verstand es geschickt, durch seinen professoralen Helden aus Neu-England alteuropäische Hochkultur und amerikanische Thrillerliteratur miteinander zu verknüpfen. Langdons Entschlüsselungs-Schnitzeljagd zu den Meisterwerken europäischer Kultur bildete den Ariadnefaden zu den Weltverschwörern, die er in letzter Sekunde an ihrem bösen Tun hindern konnte. Dieser Trick erlaubte es dem Autor aus New Hampshire, seinen Helden als Cicerone des Lesers die Zentren des europäischen Mittelalters durchschreiten zu lassen und ihn mit kunsthistorischen Wissenshäppchen zu füttern.

Im dritten Band der Reihe, dem Roman „Das Verlorene Symbol“ beging der Autor den Fehler, die Handlung nach Washington zu verlegen, die symbologische Schnitzeljagd auf Kreuzworträtselniveau zu senken und mit einem so durchschaubaren Plot zu versehen, dass der Leser schon nach hundert Seiten das Ende ahnte. Zumindest einen dieser Fehler hat Brown in „Inferno“ korrigiert. Robert Langdon erwacht diesmal in Florenz mit Gedächtnisverlust aus einer Ohnmacht. Er befindet sich anscheinend mit einer Kopfverletzung in einem Krankenhaus. Schon wenige Minuten später knallen Schüsse, ein blutverschmierter Arzt stürzt zu Boden und die schöne, superintelligente Ärztin Sienna Brooks flüchtet mit dem Amerikaner auf einem Motorroller ins Gewühl der Kunstmetropole. Es beginnt das für Dan Browns Romane typische Gehetze von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit.

Überall sind geheime Botschaften versteckt

Palazzo Vecchio, die Kathedrale Santa Maria del Fiore, das Baptisterium – überall sind geheime Botschaften versteckt, die wiederum auf neue Orte verweisen. Dennoch bleibt den beiden Helden, die eigentlich Milliarden von Menschen in den nächsten Stunden vor einem Komplott retten müssten, ausreichend Zeit zu wikipedia-gesättigten Vorträgen und Kontemplationen über die Kunstwerke.

Als Navigator durch die Welt der Symbole dient Brown die „Göttliche Komödie“. Doch Dante ist dem Autor nicht genug. Um seine Figuren aus einem dramaturgisch undurchschaubaren Grund von Florenz zunächst nach Venedig und schließlich nach Istanbul zu jagen, lässt er den Bösewicht des Romans, einen Schweizer Biochemiker und Milliardär namens Dr. Bertrand Zobrist, das Meisterwerk der Weltliteratur um einige Zeilen ergänzen. Diese Entscheidung, mit ihrer gehörigen Portion Hybris, offenbart die Schwäche von „Inferno“. Anders als in „Iluminati“ und „Sakrileg“ schafft Brown das Rätsel selber, das sein Symbologe Robert Langdon entschlüsseln muss. Es geht nicht mehr um versteckte Symbole in echten Kunstwerken. Hier haben wir es mit dem erfundenen Symbol zu tun.

Browns Erfolgsrezept, eine Geschichte, sei sie auch noch so absurd und aufgeblasen, mit der kunsthistorischen Wirklichkeit zu verweben, versagt also an zentraler Stelle. Das ist umso auffallender, als es kaum ein symbolträchtigeres und rätselhafteres Werk der Weltliteratur gibt als die „Göttliche Komödie“. Oder vielleicht ist auch gerade das der Grund: Wenn Dantes Werk selbst eine kaum erfüllbare Entschlüsselungsaufgabe für jeden Symbologen darstellt, braucht es da noch eine Weltverschwörung? Zumal wenn Robert Langdon, der weltgrößte Symbol-Entschlüssler und allerorten geschätzte Kunstexperte, Ewigkeiten benötigt, um sich daran zu erinnern, dass das Grab des Dogen Enrico Dandolo in der Hagia Sophia zu finden ist. Jeder Istanbul-Tourist mit Marco-Polo-Reiseführer weiß schneller als der große Experte, dass es im einstigen Byzanz eine gewaltige antike Kaverne gibt, die als „Versunkener Palast“ bezeichnet wird.

Trotz dieser Schwächen wird das Buch wieder ein Erfolg werden. Die Verschwörungsthriller des Dan Brown setzen inzwischen gewaltige Marketingmaschinerien in Gang. Viel Geheimnistuerei gehört dazu. Die Ausgaben in den wichtigsten Sprachen erschienen gleichzeitig mit dem englischsprachigen Original. Die Übersetzer mussten in scharf bewachter Kasernierung in Mailand arbeiten. Vorabexemplare für Rezensenten gab es nicht. Nur das erste Kapitel wurde als Appetithappen in einer Sonntagszeitung veröffentlicht. Die Verlagsmanager wollten nichts dem Zufall überlassen. Offenbar kann man zumindest noch einen Bestsellererfolg so planen wie Bösewichter das Weltengericht.