Martha Grimes hatte einmal ein Alkoholproblem. Mittlerweile lässt die 84-jährige Bestsellerautorin aber nur noch ihren Helden Inspektor Jury trinken. Im Interview spricht sie über den Stellvertreter-Effekt und ihre Vorliebe für Pubs als Schauplätze.

Martha Grimes zählt zu den erfolgreichsten Krimiautorinnen der Gegenwart. Weltbekannt wurde die heute 84-Jährige durch ihre Serien um Inspektor Jury und die Kinderermittlerin Emma Graham. Grimes unterrichtete viele Jahre Kreatives Schreiben an der Johns-Hopkins-University in Baltimore/USA. Die „Mystery Writers of America“ kürten sie 2012 für ihr Lebenswerk zum „Grand Master“. Ihre Inspektor-Jury-Reihe wurde fürs ZDF verfilmt. In diesen Tagen erscheint bei Goldmann der 23. Fall „Inspektor Jury und die Frau in Rot“. Beim Interview gibt sich die US-Amerikanerin britisch höflich.

 
Ms Grimes, Mögen Sie Alfred-Hitchcock?
Selbstverständlich. Ich bin absoluter Hitchcock-Fan. Zwar kann ich mich nicht mehr erinnern, welchen seiner Filme ich zuerst gesehen habe, aber ich weiß, dass es keinen Hitchcock-Streifen gibt, der mir nicht gefallen hat. Obwohl, eine Ausnahme fällt mir doch ein: „Marnie“ mit Tippi Hedren und Sean Connery empfand ich als weit unter seinem üblichen Standard.
Ihr neuer Roman heißt im Original „Vertigo 42“, und wie bei Hitchcock stürzt darin eine Frau von einem hohen Gebäude. Hat Sie sein „Vertigo“ inspiriert?
Das glaubt jeder, aber so war es nicht. Die Inspiration kam durch die Bar gleichen Namens auf dem Dach des Tower 42 in London. Da oben, in 182 Meter Höhe, spielt die erste Szene und dorthin führe ich die Handlung zum Schluss auch zurück.
Aber es ist doch nicht Zufall, dass der Sturz der Frau an Hitchcocks „Vertigo“ erinnert.
Sie haben recht. Beim Romantitel „Vertigo 42“ hatte ich natürlich das zwingende Gefühl, irgendjemand von einem hohen Gebäude stürzen lassen zu müssen. Ich habe auch weitere Hitchcock-Referenzen eingebaut. Meine Hauptfigur Inspektor Jury ist schließlich ebenfalls ein großer Fan des Meisters.
Auch viele frühere Titel Ihrer Jury-Reihe tragen Namen von Bars oder Pubs. Was fasziniert Sie an diesen Worten?
Sie begeistern und inspirieren mich! Oft habe ich erst einen Pubnamen, und danach entwickle ich den Plot aufgrund meiner Assoziationen oder der Gespräche, die meine fiktiven Pubbesucher führen. In „The Black Cat“ (deutscher Titel: „All die schönen Toten“) spielt eine schwarze Katze eine wichtige Rolle. „The Horse You Came In On“ („Fremde Federn“) ist ein Pub in Baltimore, auf den ich stieß, als ich an der Johns- Hopkins-Universität unterrichtete. Ich fand den Namen dieses Pubs so großartig, dass meine Figuren in ein Flugzeug steigen und in den USA ermitteln mussten. Alle anderen Pubnamen stammen aus Großbritannien.
Wo haben Sie „Rainbow’s End“ („Blinder Eifer“) entdeckt?
Das war purer Zufall. Ich war unterwegs nach Stonehenge und konnte den Pub selbst gar nicht sehen. Aber das Schild, das auf ihn hinwies, hat mich gleich elektrisiert. Was für ein großartiger Name. Pubnamen vermitteln sofort eine bestimmte Stimmung. Und sie sorgen für den atmo-sphärischen Rahmen meiner Romane.
„Inspektor Jury und die Frau in Rot“ ist der 23. Roman der Serie. Hatten Sie diese Beständigkeit im Sinn, als Sie 1981 mit dem ersten Band begannen?
Ich hatte schon vor, ein paar Folgen zu schreiben – dass es so viele werden könnten, hätte ich nie gedacht. Aber mir liegen nun einmal meine Figuren am Herz, ich will sie immer besser kennenlernen, ihre Psyche ausloten. Dafür reicht ein Buch nicht aus. Wahrscheinlich liegt es auch daran, dass mich Jury nie langweilt. Und wenn es mir einmal schlecht geht, dann übertrage ich das einfach auf ihn. So ist er zu seinen Depressionen gekommen.
Haben Sie sich durch Ihren großen Erfolg verändert?
Welchen Erfolg meinen Sie? Ich treffe nur selten Leute, die von mir gehört haben.
Sie sind zu bescheiden.
Nein, wirklich! Es passiert mir immer wieder, dass mich Leute, denen ich als berühmte Bestsellerautorin vorgestellt werde, fragen: „Sollte ich von Ihnen gehört haben?“ Ich antworte dann: „Offensichtlich nicht.“ Umso mehr bin ich erstaunt, wenn doch mal jemand aufgrund meines Namens fragt: „Sie sind aber nicht die Schriftstellerin, oder?“ Insofern kann ich ohne jede falsche Bescheidenheit sagen, dass mein Erfolg mich in keiner Weise verändert hat.
Sie haben sich öffentlich zu Ihrer früheren Alkoholabhängigkeit bekannt und 2013 mit ihrem ebenfalls süchtigen Sohn ein Buch darüber geschrieben. Wie kam es dazu?
Ich wusste, dass nie zuvor ein Elternteil und sein Kind über diese Sucht geschrieben hatten. Das hat mich gereizt. Ich dachte mir, dass so ein Buch ein viel größeres Publikum erreichen könnte als die üblichen Bekenntnisse. Mein Sohn und ich waren zwei völlig unterschiedliche Trinker, wir haben zwei unterschiedliche Entzugsarten gewählt, und wir waren beide erfolgreich damit. Über diese Unterschiede und Gemeinsamkeiten wollte ich unbedingt schreiben – so einfach ist das.
Hatten Sie keine Bedenken, sich zu outen?
Überhaupt nicht. Und inzwischen kann ich sagen, dass mir dieses Outing überhaupt nicht geschadet hat. Trocken bin ich auch weiterhin: meinen letzten Drink habe ich im Dezember 1990 gekippt.
Welchen Einfluss hatte die Sucht auf Ihren Schreibprozess?
Ich hatte Glück, dass ich trotz meines enorm hohen Alkoholkonsums auf einem sehr hohen Level funktionieren konnte. Ich glaube nicht, dass ich unter Alkoholeinfluss anders geschrieben oder an der Universität anders unterrichtet habe. Die Qualitäten oder Schwächen meiner Bücher scheinen gleich geblieben zu sein. Mein Vorteil war, dass ich nur morgens und vormittags geschrieben habe. Mit dem Trinken von viel zu vielen Martinis begann ich erst danach.
Warum haben Sie dann aufgehört und sind in eine Entzugsklinik gegangen?
Es war mir unheimlich, vom Alkohol fremdgesteuert zu werden. Mein Leben war von der Sucht geprägt, vom Drang, regelmäßig zu trinken.
Inspektor Jury und sein Kollege genehmigen sich regelmäßig ein paar Gläser Guinness, Port und Martini. Haben Sie je daran gedacht, sie zu Abstinenzlern zu machen?
Machen Sie Witze? Meine Geschichten spielen in und um Pubs. Ohne Alkohol würden sie nicht funktionieren. Für mich haben sie auch einen Stellvertreter-Effekt. Denn wenn ich über Jury und seine Freunde schreibe, wie sie da im „Jack and Hammer“ sitzen, dann genieße ich das, ohne selbst trinken zu müssen. Außerdem: Jury hat aufgehört zu rauchen. Er musste also schon genug leiden.
Besuchen Sie selbst noch Pubs?
Aber sicher. Allerdings bestelle ich dann nur Mineralwasser.