Er hat sie gehasst, diese verdammte Hütte auf dem Berg, damals als kleiner Bub, Anfang der sechziger Jahre. Heute ist Florian Beiser milder gestimmt. Er und seine Frau putzen die Stuttgarter Hütte in den Lechtaler Alpen für die neue Saison heraus – ein Knochenjob.

Rems-Murr/ Ludwigsburg: Martin Tschepe (art)

Lech am Arlberg - Er hat sie gehasst, diese verdammte Hütte auf dem Berg – damals als kleiner Bub, Anfang der sechziger Jahre. Heute ist Florian Beiser in Würde ergraut und milde gestimmt. Er und seine Frau haben die Stuttgarter Hütte in den Lechtaler Alpen, die der Sektion Schwaben des Deutschen Alpenvereins gehört, längst lieben gelernt. Man könnte sagen: Die Behausung auf dem 2310 Meter hohen Krabachjoch gehört zur Familie.

 

Heidi und Florian Beiser betreiben die Stuttgarter Hütte seit 30 Jahren – und zwar in zweiter Generation. Anno 1959 sei der Pachtvertrag für seine Eltern das große Los gewesen, erzählt Florian Beiser. Bot der Kontrakt der Familie doch langfristig ein kleines, aber gesichertes Einkommen und eine Perspektive. Für den Sohn sah die Sache seinerzeit ganz anders aus. Sommer für Sommer bekam Florin Sätze wie diesen zu hören: „Junge, geh doch geschwind runter, in der Küche fehlt Speck.“ Manchmal hat Mehl gefehlt. Oder Salz. Oder was auch immer. Dann musste der Florian nach Lech absteigen, Widerstand zwecklos. Manchmal ist er dreimal am Tag zwangsweise ins Tal gewandert – und wieder hoch.

Heute ist Beiser 60 Jahre alt und, so schätzt er, mindestens 6000-mal zu der Stuttgarter Hütte auf- und wieder abgestiegen vom Berg. Er ist ein routinierter Bergsteiger in den Lechtaler Alpen. Viele Jahre lang hat Beiser ehrenamtlich für die Bergwacht in Österreich gearbeitet. Mit seinem vollen, grauen Haar wäre er für die Rolle eines abgeklärten Alpinisten in einer Fernsehserie geradezu prädestiniert.

Die Wirtin heißt Heidi und ist eine Hessin

In Wirklichkeit ist er Pächter der Stuttgarter Hütte, und in diesem Monat, in dem der kalendarische Sommer beginnt, damit beschäftigt, das Refugium aus dem Winterschlaf zu erwecken. Florian Beiser und seine Frau – sie heißt zwar Heidi, stammt aber aus Hessen – haben an diesem Junimorgen die Autos bepackt. Während der nächsten Tage bringt das Ehepaar zusammen mit seinem Sohn Fabian und ein paar Helfern die Hütte wieder auf Vordermann. Geplant ist, dass Heidi Beiser, ihr Sohn, ein Neffe und drei Saisonkräfte bis etwa Anfang Oktober oben bleiben und die Gäste versorgen. Die Stuttgarter Hütte hat 70 Schlafplätze, und wenn das Wetter mitspielt, dann kommen zusätzlich am Tag ein paar Hundert Bergwanderer zum Essen.

Ein gutes Vierteljahr lang muss von frühmorgens bis spätabends geschuftet werden. Der 23-jährige Fabian hat sich vorgenommen, donnerstags unten im Tal den Feuerwehrabend zu besuchen. Das war’s auch schon an Freizeitvergnügen. Ob sich die Entbehrungen lohnen, ist ungewiss. Florian Beiser erinnert sich noch gut an den Sommer 1995, als heftige Schneefälle die Saison bereits Ende August beendet haben: „Es war für uns ein Minusgeschäft.“

Der Österreicher mit der von der Sonne gebräunten Haut ist im Hauptberuf Mess- und Regeltechniker. Unter der Woche arbeitet er bei Fischer-Consulting in Waldachtal. Seit 18 Jahren pendelt er zwischen zwei Welten. Von Montag bis Freitagmittag der Job im Schwarzwälder Büro, an den Wochenenden lebt und arbeitet er in seiner Heimat in den Lechtaler Alpen. Für diese Juniwoche hat Beiser wie immer zum Saisonbeginn Urlaub genommen – Arbeitsurlaub auf der Hütte.

Abmarsch in Richtung Hütte

Beiser parkt den Wagen neben der Talstation des Transportlifts auf etwa 1900 Höhenmetern und belädt die Gondel. Der Lift versorgt die Stuttgarter Hütte mit Lebensmitteln und allen anderen Dingen, die oben benötigt werden. Bei der ersten Fuhre türmen sich in der Gondel Bierkästen, Saftflaschen, Würstle, Brot, Salat, Gemüse und Obst, die Batterien für die Notbeleuchtung und die Rauchmeldeanlage sowie Schuhe und Kleidungsstücke. Für die Personenbeförderung ist die Gondel nicht zugelassen.

Abmarsch in Richtung Hütte. Für den Aufstieg von der Liftstation benötigen geübte Wanderer etwa eine Stunde, Florian Beisers Rekord liegt bei 37 Minuten. Hinunter hat er es bei einem Notfall einmal in einer Viertelstunde geschafft: Ein Mann hatte oben einen Herzinfarkt erlitten, und das Telefon war ausgefallen. Lange her, damals gab es noch keine Handyverbindungen. Der Mann ist damals trotz des schweißtreibenden Einsatzes des Hüttenwarts gestorben, kurz nach der Ankunft des Rettungshubschraubers. Während des Aufstiegs erzählt Beiser, dass mit dem Materiallift schon mehrmals tödlich verunglückte Wanderer ins Tal transportiert werden mussten. Schön ist die Natur hier an der Grenze zwischen Tirol und Vorarlberg. Aber mitunter auch gefährlich.

An diesem Samstag bläst der Wind ein paar harmlose Wolken über die Alpengipfel, es ist trocken und warm. „Wir hatten Ende Juni schon Minusgrade und Schneetreiben, aber den Eröffnungstermin haben wir immer gehalten“, berichtet Beiser.

Der erste Kontrollgang

Ankunft bei der Hütte. Beiser, der Mann mit der Schlüsselgewalt, öffnet die Eingangstüre, sagt „Herzlich willkommen!“ und schenkt einen Schnaps aus. Normalerweise trinke er fast nie Hochprozentiges, aber am ersten Hüttentag sei das Pflicht. Na dann: Prosit – und dann an die Arbeit!

In der Stuttgarter Hütte ist es dunkel, die Luft feucht. Man riecht, dass monatelang nicht gelüftet wurde. Auf einem Tisch liegen die Werkzeuge griffbereit: eine Taschenlampe, ein Hammer, eine Zange und ein Schraubenzieher. Alles am letzten Tag der alten Saison akkurat hergerichtet. Der erste Kontrollgang führt Beiser zum Trafohäuschen.

Der Trafo brummt. „Ein gutes Zeichen“, sagt der Hausherr. „Das E-Werk hat den Strom wie verabredet bereits eingeschaltet. Sehr beruhigend.“ Seit 1987 wird die Hütte über ein Erdkabel versorgt, vorher war ein Dieselaggregat notwendig.

Als Florian Beisers Eltern die desolate Hütte im Jahr 1959 übernahmen, gab es noch gar keinen Strom. Spirituslampen erzeugten ein schummeriges Licht. Seither ist in die Berghütte kräftig investiert worden: Ein Anbau kam hinzu, das Obergeschoss wurde neu aufgebaut, die Küche modernisiert und, und, und . . . Während des großen Umbaus im Sommer 2011 flog ein Hubschrauber an einem einzigen Tag 175-mal Material vom Tal auf das Krabachjoch. Beton ist eben schwer.

Noch viel zu tun

Die meisten Reparaturen erledigt Beiser selbst. „Wenn ich bei jedem Problem einen Handwerker holen würde, wären wir längst pleite“, sagt er. Außerdem sind Elektriker oder Schreiner auch nicht erpicht darauf, in der Stuttgarter Hütte zu arbeiten. Denn auf die Frage „Wie komme ich da hoch?“ weiß Beiser nur eine Antwort: „Zu Fuß.“

Ohne die Materialbahn könnte die Stuttgarter Hütte kaum existieren. Beiser öffnet den Regelkasten an der Bergstation und blickt auf bunte Knöpfe und Schalter. „Probieren wir’s“, sagt er. Die Gondel setzt sich langsam in Bewegung. Sobald der erste Markierungsknoten am Seil die Bergstation erreicht, steht die Ankunft unmittelbar bevor. Als die Gondel wieder auf dem Rückweg in Richtung Trittalpe bei Zürs ist, genehmigt sich der Hüttenwart eine Zigarette. Alles funktioniert. Falls bereits heute ein Bergsteiger anklopfen sollte, könnte man ihm eine Dusche, ein Bett und eine Mahlzeit anbieten. Offiziell eröffnet die Stuttgarter Hütte am 21. Juni.

In den verbleibenden Tagen müssen die Beisers noch einiges erledigen. Sämtliche Zimmer putzen. Die zerlegte Bierzapfanlage zusammenbauen. Die Lebensmittel, die mit zig Seilbahnfahrten heraufgeschafft werden, ins Haus schleppen. Fliegengitter vor die Küchenfenster montieren. Den Kellerboden erneuern. Die Biokläranlage inspizieren lassen. Einen Zaun um die Wasserquelle aufstellen, um das Vieh der benachbarten Alm fernzuhalten. Die junge Hündin Lilly erziehen, damit sie nicht jeden Gast anbellt.

Deftiges Abendessen

Gegen Mittag treffen Heidi und Fabian Beiser auf der Hütte ein. Der Sohn wird von seinem Vater sofort dafür eingespannt, die eingelagerte Satellitenschüssel an eine Hauswand zu schrauben. Eigentlich ist der kleine Fernseher nur für das Personal, aber in den kommenden Wochen gilt eine Ausnahmeregelung – schließlich kann man den Gästen eine Fußball-WM nicht vorenthalten. Fabian schnappt sich eine Schaufel und schiebt den hoch aufgetürmten Schnee weg. „Papa, hast du gesehen: die Holzterrasse hat sich abgesetzt?“ Also noch eine Aufgabe für die kommenden Tage: Die Balken müssen ausgetauscht werden.

Heidi Beiser stürzt sich derweil in die Küchenarbeit, sortiert Lebensmittel, holt die Töpfe und Pfannen aus dem Schränken und hängt den alten 2013er Kalender ab, der noch das Blatt mit dem Wochenende 28./29. September zeigt.

Mittlerweile sind ein paar Freunde und Helfer der Beisers eingetrudelt. Sie tragen die Bierbänke und Tische raus. Fabian macht in dem Emaille-Ofen Feuer, der seit der Hütteneröffnung vor 105 Jahren in der guten Stube steht. Seine Mutter sagt zufrieden: „Endlich wird’s schön warm.“

Zum Abendessen gibt es Spiegeleier, Würste, Bratkartoffeln und Bier. Dann fallen alle todmüde in die Betten. Am nächsten Morgen strahlt die Sonne vom Himmel, aber nur für eine halbe Stunde. Dann treibt der Wind Wolken heran, die die Hütte umhüllen. Beim Blick aus den Fenstern ist nichts mehr zu sehen, außer Nebel.

Der nächste Morgen

Sobald die Chefin Heidi wach ist, dudelt auf der Stuttgarter Hütte im Radio SWR 1. Einer der Helfer blättert in dem alten Hüttenbuch. Im Sommer 1929 notierte ein Mann: „Eingeschneit und den ganzen Tag auf Aussicht gewartet.“ 1933 zeichnete jemand die Hütte in den Tiroler Bergen mit Tusche und schrieb „Burg der Schwaben“ darunter. Anno 1921, heißt es in dem Wälzer, seien 1095 Übernachtungsgäste da gewesen. Heutzutage kommen in guten Jahren dreimal so viele. „Der Laden boomt“, sagt Florian Beiser.

In seiner Kindheit musste sein Sohn Fabian in den Sommermonaten oft auf seine Eltern verzichten. Während Heidi Beiser oben auf dem Berg die Gäste bediente und der Vater im Nordschwarzwald arbeitete, wurde der Sohn drunten im Tal von der Großmutter versorgt. Damals, erzählt der 23-Jährige beim Morgenkaffee, habe er wohl ganz ähnliche Gefühlen gehabt wie sein Vater einst: Diese verdammte Hütte! Doch heute sei er von dem paradiesischen Ort auf 2310 Metern begeistert und fest entschlossen, eines Tages den Pachtvertrag für die Stuttgarter Hütte von seinen Eltern zu übernehmen. Die Beziehung zwischen dem Alpenverein Schwaben und der fleißigen Familie Beiser wird wohl mindestens eine weitere Generation halten.

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