Der zunehmende Bewegungsmangel bei Kindern und Jugendlichen ist für die Vorsitzende der Kinderturnstiftung Susanne Weimann ein alarmierendes Zeichen. Doch was kann man dagegen tun?

Stuttgart - Der Bewegungsmangel, den die WHO bereits als Epidemie des 21. Jahrhunderts eingestuft hat, nimmt immer weiter zu. Diese Entwicklung zeigen jahrelange wissenschaftliche Studien. Susanne Weimann sieht großen Handlungsbedarf – von verschiedenen Seiten.

 

Frau Weimann, das aktuelle Motorik-Modul (MoMo) des Karlsruher Instituts für Technologie zeigt, dass 75 Prozent der Kinder und Jugendlichen unter 17 Jahren weniger als eine Stunde am Tag körperlich aktiv sind. Erschreckt Sie das Ergebnis?

Es gibt keine Verschlechterung was die motorischen Leistungen von Kindern und Jugendlichen angeht, aber es ist auch nicht besser geworden. Die Einschulungsuntersuchungen in Baden-Württemberg zeigen, dass es immer mehr motorisch auffällige Kinder gibt – und das schon im Kindergarten- und Vorschulbereich. Wenn man die Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation WHO anschaut, sagt die MoMo-Studie, dass weniger als ein Drittel der Kinder und Jugendlichen tatsächlich diese Bewegungsempfehlungen erreichen. Es gibt zwar viele Kinder und Jugendliche, die sportlich aktiv und auch in Vereinen organisiert sind, gleichzeitig gibt es aber so einen hohen Bewegungsmangel wie noch nie. Das kommt daher, dass die Alltagsaktivität von Kindern weiter abnimmt. Deswegen sind die Ergebnisse ein alarmierendes Zeichen.

Was sind Gründe für diese Entwicklung?

Die Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen hat sich verändert. Es gibt weniger Zeit und weniger Raum für Bewegung. Der Tagesablauf von Kindern ist sehr durchorganisiert, die Familien und die Eltern sind häufig berufstätig. Die freie Zeit wird immer kürzer. Das heißt, es fehlt die Alltagsbewegung – also das Laufen in die Schule oder in die Kita gemeinsam mit dem Kind, oder das Fahren mit dem Roller oder Fahrrad. Aber auch Flächen gehören dazu. Flächen, die weniger werden, gerade in Ballungsräumen. Viele Plätze, Wiesen, Parks und Spielplätze sind nicht mehr vorhanden oder schlecht zu erreichen.

Und immer mehr Kinder verlassen das Haus in der Freizeit gar nicht erst…

Da geht es auch um das Thema der Mediennutzung, ganz besonders die neuen Medien: Zum Fernseher kommen der Computer, das Handy, die Videospiele. Somit wird von der Zeit für freies Spielen oder für’s Aktivsein immer mehr abgekappt. Es geht aber auch um den Gesamtstellenwert von Bewegung und Aktivität im Alltag, der abnimmt. Laut Studien werden auch Erwachsene immer dicker, immer inaktiver. Und wir Erwachsenen sind ja Vorbilder für Kinder. Es sind also viele Faktoren, und das macht natürlich auch das Entgegenwirken so facettenreich.

Was muss konkret getan werden, um dem Bewegungsmangel bei Kindern und Jugendlichen entgegenzuwirken?

Wenn es um das Thema Räume geht, ist es wichtig, dass in Städteplanungen, Planungen von Gebäuden und Arealen für Familien, aber auch für Bildungseinrichtungen, der bewegungsfördernde Aspekt eine Berücksichtigung findet. Was den Stellenwert von Bewegung angeht: Da sind wir alle gefragt. Es ist einerseits die Politik gefragt, was die Botschaft in Richtung der Gesellschaft angeht, aber auch die Bildungseinrichtungen bezüglich des Themas Gesundheit. Es gibt ein schönes afrikanisches Sprichwort: „Für die Erziehung eines Kindes braucht es ein ganzes Dorf.“ Die Eltern sind ein großes Vorbild und sollten diese Vorbildfunktion auf jeden Fall einnehmen. Viele Kinder sind jedoch ganztägig betreut. Jede Bildungseinrichtung braucht das also auch – Maßnahmen, Angebote, Flächen, Zeit. Es braucht ausgebildete pädagogische Fachkräfte, die Kindern die Freude an Bewegung vermitteln und die sie in ihrem natürlichen Bewegungsdrang unterstützen.