Am Silvestertag, Punkt 14 Uhr, fällt der Startschuss für ein topbesetztes Rennen: in Bietigheim gibt es Laufsport der Extraklasse. Seit 1981 übrigens, als das Ziel noch am Marktplatz war, die Siegerin zur Erfrischung eine Flasche Sekt köpfte und es daraufhin eine lange, lustige Nacht wurde.

Bietigheim-Bissingen - Eine einsame Würstlesbude hat die ersten Silvesterläufer auf dem Bietigheimer Marktplatz empfangen. 1981 war das, und Veronika Maiwald (damals noch Veronika Manz) bekam als schnellste Frau ein Piccolo in die verschwitzt-kalten Hände gedrückt. „Es wurde ein lustiger Nachmittag“, erinnert sich die heute 53-Jährige an das damals ungewohnte Erfrischungsgetränk nach viereinhalb Runden Höchsttempo durch die Altstadtgassen.

 

Trotz vorerst bescheidener Publikumsresonanz und handgestrickter Zielverpflegung: der Anfang war gemacht. Bietigheim-Bissingen hatte den ersten Silvesterlauf in der Region Stuttgart veranstaltet. In Baden-Württemberg konnten die Läufer zuvor nur in Kisslegg im Allgäu oder in Fluorn-Winzeln bei Rottweil zum Jahreskehraus das Laktat in die Beine schießen lassen.

Höher, Schneller, Weiter

Ausbaldowert haben den sportlichen Wettstreit Rolf Zinser und der mittlerweile verstorbene Heinz Nägele. Die Herren waren jeder Leichtathletikabteilungsleiter, der eine ehemaliger Mehrkämpfer beim TSV, der andere Kugelstoßer bei der Germania – ja, diesen Stellenwert hatte die olympische Kerndisziplin einst in Bietigheim, dass gleich zwei Vereine das Höher, Schneller, Weiter betrieben.

Rolf Zinser und Heinz Nägele hockten zum Jahresanfang 1981 im winterlichen Besigheim, im Besen von Andreas Joos. Die ersten roten Viertele waren geleert, das Gespräch drehte sich um – Sport. Ihren Sport. Die Gedanken entfleuchten in sommerliche Gefilde, bis der Name fiel, wovon die Zeitungen gerade voll waren: São Paulo. Silvesterlauf. Seit 1925 heißblütiger Tanz, Zatopek, Sambatrommeln. Am Ende des Abends stand fest: Das machen wir auch.

Laufwege hochkarätiger Athleten

Zumindest im Bietigheimer Forst hat die Idee sofort eingeschlagen. Im Trainingsareal von Reiner Müller kreuzten sich seinerzeit die Laufwege von gleich einem Dutzend hochkarätiger Athleten. Die regionalen, oft sogar nationalen Spitzenläufer von Salamander Kornwestheim, der SG Ludwigsburg und dem SKV Eglosheim machte der neue Termin heiß. „Ein Wettkämpfle um diese Jahreszeit, das hörte sich spannend an“, sagt Müller, der es in seiner Karriere bis zu einer Marathonzeit von 2:19,03 Stunden schaffte.

Die Mund-zu-Mund-Propaganda glückte: Keine zwölf Monate nach dem Besen-Tête-à-Tête stellten sich 350 Starter beim ersten Silvesterlauf in Bietigheim-Bissingen auf. Reiner Müller gewann. Und vier Jahre später erneut. Was für Rolf Zinser schlicht unerwartet kam.

Eine einmalige Sache?

Denn der launige Gedanke beim Viertelesschlotzen sei doch „ein bissle eine blöde Idee“ gewesen, sagt Zinser heute und grinst. Eigentlich habe er nicht erwartet, dass sich im Winter ein heißes Rennen etablieren lasse. Als er beim damaligen Ordnungsamtsleiter Kurt Leibbrandt das behördliche Okay für den Lauf abholte, sei man einvernehmlich überzeugt gewesen, dass der Euphoriefunke flugs wieder verlöschen werde und eine zweite Auflage illusorisch sei.

Sie irrten. Gewaltig. 1982 kamen 500. Und im Jahr 1983 stauten sich die Läufer im Zielkanal. Die Zeitnehmer, ausgerüstet mit Stoppuhr und Schreibmaschine, bewältigten den Ansturm nicht. Böse Worte fielen. Ein Debakel.

Die Organisatoren aber steckten nicht auf. Sie verließen den malerischen, aber engen Marktplatz und verlegten den Start-Ziel-Bereich unter das vielleicht noch imposantere Viadukt in der Enzaue. Die Teilnehmerzahlen legten weiter kräftig zu, von knapp 1000 auf das Dreifache zur Jahrtausendwende. 2004 wurde sogar die Marke von 4000 Finishern geknackt. Seither ebbt der Boom leicht ab. Dagegen ist nunmehr für jeweils um die 20 000 Zuschauer das Anfeuern letzte Bürgerpflicht des Jahres.

Siegprämie 5500 Mark

Deutschlandweit gibt es heute fast 100 Silvesterläufe. Nach Trier ist das Rennen am Fräuleinbrunnen vorbei das zweitgrößte, in der Region das älteste, bestfrequentierte und am stärksten besetzte. Wobei lange Zeit Bietigheim-Bissingen dem Lauf in der ältesten Stadt Deutschlands zumindest ebenbürtig war. 1997 steckte in Trier ein Kenianer 5500 Mark Siegprämie ein. Deutschlands heute noch neuntschnellster Marathon-Mann Herbert Steffny kassierte bereits in den achtziger Jahren an der Enz 3000 Mark Antrittsgeld.

So professionell war man in der 40 000-Einwohner-Stadt, dass den Parkwächterdienst Helfer übernahmen, die keine Einheimischen waren. Und prompt verwehrten drei Vertreter des Ordnungsdienstes dem Oberbürgermeister Manfred List, seine Dienstlimousine auf einem Parkplatz in Startnähe abzustellen. Die robusten Männer kannten das Stadtoberhaupt nicht, das nach zeitraubenden Wortgefechten ziemliche Mühe hatte, rechtzeitig den Startschuss abzufeuern.

Weltklasse an der Porta Nigra

Doch die Prämienschere ging auseinander. In Trier stieg 1995 eine Brauerei als Sponsor ein und holt nunmehr die Weltklasse an die Porta Nigra. Bietigheim übt sich seit den Neunzigern in Bescheidenheit, zahlt in Ausnahmefällen Fahrtkostenzuschüsse statt Antrittsprämien und hat bei einem Etat von 70 000 bis 80 000 Euro gleichwohl Topleute am Start, denen für einen Sieg relativ magere 350 Euro winken.

Der Cheforganisator Gerhard Müller hält diesen Weg dennoch für den richtigen: Sein Ziel sei nicht, um internationale Asse mitzubieten: „Wir kaufen niemanden ein.“ Lieber bemühe sich sein Team darum, die regionale und nationale Spitze ins Feld zu bekommen, als den ostafrikanischen Übersportler, der – wenn er nicht gerade Haile Gebrselassie heißt – meist unbekannt ist. Im Zweifel goutierten die Fans an der Strecke das mehr. Immerhin, sagt Müller, schaffe es sein Läufer-Scout Reiner Müller jedes Jahr aufs Neue, eine so starke Spitzengruppe zu verpflichten, dass selbst der oftmalige Sieger des Stuttgart-Halbmarathons, der Olympionike Martin Beckmann, mehrfach zum Silvesterlauf in Weilimdorf ausgewichen sei, um zum Ausklang des Jahres auch einmal Erster zu werden.

Klasse und Masse vertreten

Reiner Müller, der heute als Trainer bei der LG Neckar-Enz seine Kontakte zur nationalen Läuferelite für den Bietigheimer Silvesterlauf spielen lässt, sieht das Erfolgsgeheimnis des Rennens im Mix aus „Topniveau, Teamspirit und Gesundheitswelle“: Um im Konzert der größten Silvesterläufe weiterhin den Ton anzugeben, müsse die Balance aus Klasse und Masse stimmen.

Kampf gegen jeden Krümel Eis

Aus der Perspektive der Athleten heißt das beispielsweise, den 11,1 Kilometer langen Kurs so zu gestalten, dass die Spitze unfallfrei alles geben kann. Dafür bekämpft das Bauhof-Team jeden Krümel Eis auf dem Parcours. „Die Jungs hängen nach Weihnachten jede Stunde am Wetterbericht“, sagt Gerhard Müller. Ob Orkan Lothar Bäume umgeworfen hatte oder üppig Schnee vom Himmel gefallen war: ausgefallen ist der Bietigheimer Silvesterlauf noch nie. „Das Glück des Tüchtigen“, sagt der Chef-Organisator.

Eine kleine und eine große Runde

Seit dem Jahr 2002 absolvieren die Silvesterjogger eine kleine und eine große Runde. Vorher war es auf dem letzten, abschüssigen und kurvigen Kilometer durch die Altstadt zu heiklen Überrundungen von Läufern gekommen, die eine gemächlichere Gangart bevorzugt hatten und sich noch auf der ersten Streckenhälfte befanden.

Natürlich zahlen auch in Bietigheim die Hobbyjogger mit ihrem noch einigermaßen moderaten Obolus von 14 Euro die Gagen für die Cracks. Doch es scheint sie nicht zu stören. Im Gegenteil: das Feld der Altersklassenläufer und der Gesundheitsbewegten, der Kämpfer und der Schlurfer, der närrisch Gewandeten und der Arbeitskollegen im Corporate-Identity-Outfit drängt einem trippelnden Lindwurm gleich für 40 oder auch 70 Minuten mit heftigem Herzklopfen dem Finale entgegen. Genauso wie den letzten Stunden des Jahres. Und hat bei jedem Schritt das heldenhafte Gefühl, die da vorn gewaltig vor sich her zu hetzen.

Achtmal dem Feld davongelaufen

Veronika Maiwald ist den Verfolgerinnen achtmal davongelaufen. Die Rekordsiegerin aus Walheim glaubt, dass die Magnetwirkung des Bietigheimer Silvesterlaufs neben der guten Organisation und der abwechslungsreichen Strecke aus dem Zusammentreffen von familiärer Gaudi und Spitzensport zu verstehen ist. Schon bei der Premiere 1981 ist die nüchterne Atmosphäre einer 08/15-Sportveranstaltung mit „ein paar warmen Worten des Bürgermeisters und der obligatorischen Pokalübergabe“ schnell in eine After-Run-Party gemündet. Bis zum Morgengrauen dauerte die Fete der Läufer – und danach auch die jeweils im Jahresrhythmus folgenden. Ausdauer ist vielfältig hilfreich. Oder, für die Anhänger der protestantischen Sozialethik: erst die Arbeit, dann das Vergnügen.