Im Netzt kann man kein ganzer Mensch mehr sein. Man ist nur noch Nutzer. Jemand, dessen Stoffwechsel nun Daten produziert.

Stuttgart - Im Jahr 1957 entwarf Vance Packard in seinem Buch „Die geheimen Verführer“ das Menschenbild eines ohnmächtigen, von Medien und Werbung manipulierbaren Konsumenten. Im darauffolgenden Jahrzehnt entfaltete sich dieses Selbstgefühl zum „Konsumterror“, dem sich eine protestierende Jugend ausgesetzt sah. Erst in den Achtzigerjahren nahmen die weiterhin passiv Fernsehschauenden die Sache wieder selbst in die Hand. Mit dem Aufkommen von mehr und mehr Privatsendern wurde die Fernbedienung zu einem Werkzeug der Selbstermächtigung. Der Zuschauer wurde aktiv: Er übernahm nun die Bildregie selbst.

 

In den Neunzigern öffnete sich mit dem World Wide Web ein Traum des in sein Hamstertretrad aus einer Handvoll TV-Programme eingesperrten Zusehers. Jeder Klick auf einen Online-Link öffnete quasi ein weiteres Programm in einer neuartigen Unterhaltungs- und Informationsunendlichkeit. Dem Netz hing der Ruf an, anarchistisch und unkontrollierbar zu sein, ein digitaler Dschungel, durchstreift von Hackern, Atomphysikern, Kreditkartendieben und Pornografen. Abenteuer!

Dann stellten Unternehmen wie Google, Facebook, Amazon und Apple die ersten mächtigen Werkzeuge zur Verfügung, mit denen sich die Sturmfluten an Informationen, Produkten und Kommunikation bändigen und nie zuvor gekannte Bequemlichkeiten vom Schreibtisch aus genießen ließen. Das Pyjama-Zeitalter hatte begonnen (das ganze Online-Universum lässt sich im Pyjama bereisen). Der Preis dafür: Im Netz kann man kein ganzer Mensch mehr sein. Man ist nur noch Nutzer. Jemand, dessen Stoffwechsel nun Daten produziert.

2006 prangte auf dem Titel des Time-Magazins als „Person des Jahres“ – YOU. Du. Der Nutzer. Die digitale Aristokratie kennt nur noch Könige, hieß das. Du bestimmst, was im Netz geschieht. Welche Nachricht auf Platz 1 steht. Welche Produkte durch Crowdfunding realisiert werden. Du zwingst die Musikindustrie in die Knie. Du bist Teil einer einzigartigen, weltweiten Revolution.

Gelegentlich wurde das triumphale Gefühl, an der Eroberung des digitalen Kontinents teilzunehmen, überschattet von dem Verdacht, beim Tausch seiner persönlichen Daten gegen vermeintliche Gratisdienstleistungen wie etwa die Nutzung einer Suchmaschine womöglich mit Glasperlen abgefunden zu werden. Warum fliegt Larry Page einen Privatjet und ich fahre immer noch S-Bahn, obwohl ich auf dem Titel des Time-Magazins war? Sind meine Nutzerdaten nicht um einiges mehr wert als die gebotenen Dienste? Auch dass einem Daten vorwiegend heimlich oder mit Drückermethoden aus der Tasche gezogen werden (man denke an Sätze wie: „Hinterlassen Sie aus Sicherheitsgründen ihre Mobiltelefonnummer“), minderte den Eindruck einer verbesserten neuen Welt.

Kameras sind Schnee von gestern

In welchem Ausmaß inzwischen insgeheim mit uns verfahren wird, machen seit Mitte letzten Jahres in Schockwellen die immer neuen Enthüllungen aus dem Dokumentenfundus von Edward Snowden deutlich. Passend flankiert werden sie von Innovationen wie der im Februar 2013 an Entwickler ausgelieferten Google-Brille, mit der sich jeder in eine lebende Überwachungskamera verwandeln kann. Kameras, die einfach nur aufnehmen, was zu sehen ist, sind im übrigen Schnee von gestern. Willkommen im Zeitalter von Big Data. Visuelle Künstliche Intelligenz erkennt heute auf Überwachungskameras Autonummern und analysiert Live-Videos – die Algorithmen können zwischen „normalem“ und „ungewöhnlichem“ Verhalten von Menschen unterscheiden, Zusammenhänge zwischen Orten, Personen und Aktivitätszeitpunkten herstellen und Datenmassen so analysieren, dass daraus auch Schlüsse auf künftige Situationen gezogen werden können.

Solche Software wird etwa in den polizeilichen „Real Time Crime Centers“ amerikanischer Großstädte eingesetzt. Ein Programm namens Blue CRUSH („Criminal Reduction Utilizing Statistical History“) kombiniert dabei Daten aus bisherigen Straftaten mit Wetterberichten, Veranstaltungshinweisen, Zahltagen und ähnlichem, um auf den Bildschirmen Kriminalitätsmuster sichtbar zu machen, die darauf hinweisen, wann und wo es Probleme geben könnte.

Die technischen Kapazitäten zur totalen Überwachung des Netzmenschentums haben erst vor kurzer Zeit sprunghaft zugenommen. Um die Goldadern in den anwachsenden Informationsgebirgen ausfindig zu machen, betreiben digitale Kolosse wie Google, Amazon oder Facebook ebenso wie die Geheimdienste Data Mining. Die Verbreitung von Smartphones und Tablets, neue Speichertechnologien und Parallelverarbeitung auf neuen Supercomputern machen nun die lückenlose Überwachung und Lesbarkeit der Kommunikationsströme möglich. Das ist das neue Lebensgefühl in der Ära anlassloser Überwachung: bereits eingesperrt zu sein, ohne es zu merken – und zwar in einem Datenkäfig.

Mit Netzwerkanalyse-Werkzeugen lassen sich zudem Beziehungsgeflechte zwischen Personen erstellen. Es reicht, Zugriff auf die Verbindungsdaten zu haben – Stichwort Vorratsdatenspeicherung. Wobei den Unterlagen von Edward Snowden zufolge allein die NSA in Deutschland an normalen Tagen bis zu 20 Millionen Telefonverbindungen und um die 10 Millionen Internet-Datensätze einsammelt. Diese Metadaten lassen sich nicht mehr verstecken. E-Mails oder Telefonate lassen sich verschlüsseln, aber Muster in seinem Kommunikationsverhalten zu verbergen, ist fast unmöglich. Und Informationen darüber, mit wem man in Kontakt steht, können genauso verräterisch sein wie Gespräche.

Mit diesem Phänomen sah sich beispielsweise die amerikanische Journalistin Paula Broadwell konfrontiert, als vor einem Jahr ihre Affäre mit CIA-Direktor General David Petraeus aufflog. Sie hatte sorgfältig darauf geachtet, ihre E-Mails von einem anonymen Gmail-Account aus zu senden und sich auch nicht von zu Hause aus eingeloggt. Das FBI identifizierte sie trotzdem. Broadwell nutzte den Account von verschiedenen Hotels aus. Die Beamten verglichen die Gästelisten an relevanten Tagen und suchten nach übereinstimmenden Namen – ihrer war der einzige.

Aus Packards heimlichen Verführern sind unheimliche Verstörer geworden. Snowden hat uns über Dinge aufgeklärt, die das Vertrauen in elektronische Kommunikation und die Integrität des Internets grundlegend erschüttern. Die Zeit der Unschuld in der digitalen Welt ist vorbei. Es ist, wie wir alle wissen, eine Welt, die auf Berechnungen basiert. Aber da gibt es noch etwas anderes. Nichts als beziffert zu sein, und sei es in Form von Wahrscheinlichkeiten, nimmt uns jene wesentliche Art der Unbestimmtheit, die wir Freiheit nennen.