In den überbordenden Wettbewerbsprogrammen des 23. Internationalen Trickfilmfestivals war viel Bizarres und Fantastisches zu sehen. Bei der Preisverleihung aber hat die Jury ganz eigene Akzente gesetzt.

Stuttgart - Es gibt Dinge, die kann man nur falsch machen. Die Preisvergabe beim Internationalen Trickfilmfestival fällt ganz gewiss in diese Kategorie. Wer auch nur eines der spielfilmlangen Programme des Internationalen Wettbewerbs angeschaut hat, gar alle fünf, wer viele Beiträge der Kinderfilmkonkurrenz Tricks for Kids, die Nachwuchsproduktionen des Wettbewerbs Young Animation oder die Langfilme des Animovie-Sektors gesehen hat, mag beglückt sein, dem schwirrt aber auch der Kopf.

 

Wie soll man aus einer solchen Vielzahl der Stile und Themen, Absichten und Strategien, Temperamente und Anforderungen klare Favoriten benennen? Muss die Jury nicht ständig Äpfel mit Karotten und Pizza mit Marmorkuchen vergleichen? Eben, genau das muss sie. Sie muss einfach Unrecht tun, entschuldigt dadurch, dass man Preisgelder und Aufmerksamkeitsanschub nicht gleichmäßig unter viele Kandidaten aufteilen kann, ohne dass in guter Absicht Gegebene wirkungslos klein zu machen.

Eine faustdicke Überraschung

Was wäre das für ein armes Festival mit so vielen Beiträgen, bei dem ein paar wenige Filme haushoch alle anderen überragen würden? So arm war das Trickfilmfestival – und damit die globale Animationswelt, die in Stuttgart ihr Familientreffen der Träumer und Albträumer abhält – zum Glück noch nie.

Man kann sich also nur immer interessiert und fasziniert der Frage zuwenden, was die Juroren am Ende auf den Schild heben, obwohl sie doch gewiss auch von anderen Filmen hingerissen waren. Im Internationalen Wettbewerb, dem traditionellen Kernstück des Festivals, gab es nun eine faustdicke Überraschung. Den mit 15 000 Euro dotierten Hauptpreis hat „Kaputt“ des Animators Volker Schlecht und des Produzenten Aleander Lahl erhalten, ein sieben Minuten langer Film aus Deutschland.

Schuften im DDR-Knast

An dem ist nichts auszusetzen, im Gegenteil: Er ist auf seine Art ganz hervorragend. Er entwirft keine erfundene Welt, er illustriert Zeitgeschichte. Die Tonspur ist eine Collage aus Originalinterviews mit einst in der DDR-Frauenhaftanstalt Burg Hoheneck Inhaftierten. Die oft nur wegen Reibereien mit dem SED-Gängelsystem, nicht unbedingt wegen echter Vergehen Verurteilten erzählen, wie der bedrückende Alltag in der Haft verlief, und wie sie als Arbeiterinnen einer perversen Devisenbeschaffungsmaschine schuften mussten. Hinter Gittern saßen sie, weil ihre Vorstellungen, Träume, Ansprüche sich zu sehr am Westen orientiert hatten. Nun fertigten sie Konsumgüter, die sie in DDR-Läden nie zu Gesicht bekommen hatten, die nämlich direkt aus der Knastfabrik in die Läden des Westens wanderten.

Eine Überraschung ist die Preisvergabe, weil „Kaputt“ stilistisch und inhaltlich so weit weg ist von dem, was das Gros der Konkurrenz als Animation der Stunde vorführt. Viele Filme legen Wert auf einen Rest – oft einen großen Rest – an Ungreifbarkeit. Die Bilder und Geschichten sind gern ein wenig verrätselt, und wenn sie sich allmählich zusammenfügen, dann doch nicht ganz. Die meist aus dem Computer stammenden Bilder wollen nicht Einstellung um Einstellung sofort fassbar sein, wollen zumindest hie und da dem Bedürfnis nach klarer Erfassbarkeit entfliehen.

„Kaputt“ ist da ganz anders. Nach einer Minute hat man den Film begriffen, er legt Wert auf Nachvollziehbarkeit. Die Bilder sind zwar assoziativ, nehmen das Ineinanderfließende der Erinnerung auf. Aber zugleich sind die Zeichnungen auf Papier – eine bewusst altmodische Stofflichkeit – knallhart. Sie sehen aus, als hätten Häftlinge im Knast auf Packpapier Bilder ihres Alltags gezeichnet und aus der Haft schmuggeln lassen.

Fantastik und Geschäfte

Die Juroren des Internationalen Wettbewerbs, Cav Bøgelund aus Dänemark und Špela Cadež aus Slowenien, Rocio Ayuso aus Los Angeles, der in Berlin lebende Syrer Jalal Maghout und Till Penzek aus Hamburg haben mit der Entscheidung für „Kaputt“ gewiss nicht gegen die Fantastik und das Surreale gestimmt. Sie weisen aber sehr markant darauf hin, dass Animation sich auch so zupackend wie der Dokumentarfilm auf die Wirklichkeit einlassen kann.

Fürs Fantastische ist das Herz dieses Festivals ja nach wie vor weit genug. Den Lotte-Reiniger-Förderpreis (10 000 Euro) etwa hat „Afternoon Class“ von Seoro Oh aus Südkorea erhalten. In immer neuen fantastischen Transformationen wird die Müdigkeit eines Schülers im Nachmittagsunterricht demonstriert, der Kopf etwa verwandelt sich in einen großen Hammer, den der Hals nicht halten kann. Wer je an einem schon dunklen Winternachmittag in einer Mathe-Doppelstunde schmorte, wird sich sofort erinnern. Und der düstere „Psiconautas“ aus Spanien, Gewinner des Langfilmpreises, ist ein veritabler Horrortrip durch Endzeitträume.

Unberechenbare Langzeitwirkung

Ganz praktisch könnte man noch die Frage stellen, was das Festival denn geschäftlich gebracht habe, wo es sich doch auch als Marktplatz der Branche versteht und als Türöffner für die lokale Szene. Die Festivalmacher hätten da auch Zahlen parat: beim Animation Production Day sind 39 Projekte mit einem Volumen von 150 Millionen Euro vorgestellt worden, 140 Teilnehmer aus 18 Ländern haben über 600 Einzelgesprächen zu Koproduktionen und Finanzierungen geführt.

Aber vielleicht ist die Frage selbst viel zu ungeduldig und kurzsichtig. Wie bei der Partnerveranstaltung FMX, die Effekt- und Digitalbildspezialisten aus aller Welt nach Stuttgart holt und unschätzbare Kontakte für die hiesige Szene gebracht hat, lässt sich der Erfolg des Trickfilmfestivals nicht unbedingt sofort ablesen. Andreas Hykade, erfolgreicher Trickfilmer („Tom und das Erdbeermarmeladebrot mit Honig“) und Leiter des Animationsinstitutes an der Filmakademie in Ludwigsburg, hat in einem der öffentlichen Gespräche vorm Pressezelt am Schlossplatz darauf hingewiesen, wie sehr die Möglichkeit, beim Trickfilmfestival die unterschiedlichsten Filme zu sehen und deren Macher kennenzulernen, ihn und andere lokale Talente geprägt und bereichert habe. Was immer das Trickfilmfestival dieses Jahr kurzfristig Gutes gebracht haben mag, langfristig sehen wir vielleicht noch Wichtigeres, wenn einmal junge Filmemacher hervortreten, die in den letzten Tagen endgültig für die Animation entflammt wurden.