US-Präsident Donald Trump hat im ersten Jahr seiner Amtszeit alle Kritiker Lügen gestraft, die ihn bereits abschreiben wollten. Ein Kommentar von USA-Korrespondent Karl Doemens.

Washington - Bis zuletzt wollten es viele nicht glauben. Hatten nicht alle Demoskopen einen Sieg von Hillary Clinton vorhergesagt? Doch am Abend des 8. November 2016 wurden die Gesichter immer länger. Mit dem Eintreffen der Wahlergebnisse wich ungläubiger Zweifel zunächst wachsender Sorge und schließlich nacktem Entsetzen. Die Politikwissenschaftler, die Medien und die Großstadtbewohner hatten sich komplett getäuscht. „Eil: Donald Trump ist gewählter Präsident der Vereinigten Staaten“, tickerte um 2.31 Uhr Ortszeit die Nachrichtenagentur AP.

 

Ein rechtspopulistischer Rüpel, der während des Wahlkampfes Frauen und Behinderte beleidigt hatte, im Weißen Haus? Nicht nur die liberalen Zentren an den Küsten der USA stürzten in eine Schockstarre. Doch bald meldeten sich die transatlantischen Mutmacher zu Wort: Man dürfte die Wahlkampfrhetorik nicht für bare Münze nehmen, sagten sie. Das Präsidentenamt präge die Person mehr als umgekehrt. Und schließlich würden vernünftige Politprofis den einstigen Reality-TV-Star schon beraten und einmauern.

Nach einem Jahr voller Tabubrüche, Affären und sonstiger Ungeheuerlichkeiten muss man ernüchtert feststellen: Auch diese Hoffnung war eine Täuschung. Tatsächlich ist vieles schlimmer gekommen als erwartet. Nicht das Amt hat Trump geformt - der Regierungschef hat die ehrwürdigen Mauern des Weißen Hauses gesprengt. Er will nicht der Präsident aller Amerikaner sein. Für ihn hört der Wahlkampf nie auf.

Schriller Daueralarm aus dem Weißen Haus

Es gibt nur zwei Instanzen, denen sich dieser Mann verpflichtet fühlt: seinem Ego und seiner von der Politik enttäuschten Basis. Dem Narzissmus zollt er mit dem Gehabe eines absolutistischen Sonnenkönigs Tribut, der das Amt hemmungslos zur persönlichen Bereicherung nutzt. Seinen Anhängern bietet er mit pausenlosen Schaukämpfen und einem aberwitzigen Verbalradikalismus einen Blitzableiter für den aufgestauten Frust.

Der schrille Daueralarm, den der Brandstifter im Weißen Haus auslöst, lenkt vom Versagen bei der Umsetzung seiner politischen Versprechen ab: Von der Mauer zu Mexiko steht kein einziger Stein. Die Radikalreform des Gesundheitssystems Obamacare ist gescheitert. Und der Einreisestopp wurde von den Gerichten zerpflückt.

Nicht wenige Trump-Kritiker wenden diese Misserfolge ins Positive. Ganz offensichtlich, argumentieren sie, seien die Gerichte, die Presse und die Profis im Kongress stark genug, die schlimmsten Verwüstungen des Präsidenten zu verhindern. Das andere Amerika müsse während der Regentschaft Trumps nur überwintern und werde dann spätestens 2020 weitgehend unbeschädigt wieder auferstehen.

Symptom der Zerrissenheit

Trump als vorübergehender Albtraum? Das ist die dritte Täuschung. Die Theorie des Aussitzens übersieht nicht nur, dass Trump die Krankenversicherung nun ohne Gesetz ausbluten lässt und jederzeit einen Krieg um Nordkorea anzetteln kann. Vor allem ist der Mann im Weißen Haus nicht Auslöser, sondern Symptom der Zerrissenheit der amerikanischen Gesellschaft. Vor einem Jahr noch hätte man sich einen US-Präsidenten, der Neonazis verteidigt, Diktatoren hofiert und das amerikanische Justizsystem als „Lachnummer“ verhöhnt, nicht vorstellen können. Doch Trump verschiebt die Maßstäbe. Mit seinen permanenten Grenzüberschreitungen zersetzt er das liberale Fundament der demokratischen Gesellschaft.

Sollte Trump in drei Jahren tatsächlich aus dem Amt gewählt werden, würde er ein Land hinterlassen, das seine Werte, seinen Stolz und seine Hoffnungen verraten hat. Doch nicht einmal die Niederlage ist sicher: Mehr als Dreiviertel der republikanischen Wähler halten unbeirrt zu ihm. Und auf die kommt es an. Die Welt hat zwar das erste Jahr Trump überstanden. Aber möglicherweise steht ihr noch Schlimmeres bevor.