Die Imaginale 2020 hat gezeigt, wie viel Vielfalt in Formaten und Ästhetiken im Figurentheater steckt. Trotz ausverkaufter Vorstellungen: Das jüngere Publikum ist zu wenig dabei.

Stuttgart - en Tod belachen, das Leben feiern, global denken und das Träumen nicht vergessen: Im interdisziplinären Spiel mit hybriden Formen ist in Stuttgart und den Partnerstädten Mannheim, Ludwigsburg, Eppingen, Schorndorf und Heilbronn die 7. Imaginale zu Ende gegangen. Elf Tage lang stellten sich unter dem Zusatztitel „Internationales Theaterfestival animierter Formen“ mehr als 100 lokale, nationale und internationale Produktionen aus zwölf Nationen zur Diskussion. Die meisten Stuttgarter Vorstellungen waren ausverkauft (99 Prozent Auslastung). Das Publikum reagierte begeistert, fragt sich aber selbst: Wo bleibt die jüngere Zuschauergeneration? Wie sind die 30- bis 40-Jährigen zu erreichen?

 

Mit nicht nachlassendem Interesse und Sachkenntnis verfolgt das Stuttgarter Publikum seit 14 Jahren (die Imaginale findet im zweijährigen Rhythmus statt) die Entwicklung des zeitgenössischen internationalen Figurentheaters, einer Kunstform, die die originäre Verwandlungslust des Menschen zum Stellvertreterspiel macht. Und einer interdisziplinären Theaterform, die in ihrer zeitlichen und inhaltlichen Dichte ihresgleichen sucht. Mehr denn je bewegten sich die Produktionen im Grenzbereich von Figurentheater, Tanz, Musik, Performance und Digitalkunst.

Verweise auf das klassische Figuren-, Bilder- und Objekttheater

Doch auch das zeitgenössische Figurentheater verleugnet seine Wurzeln nicht und verweist immer wieder auf das klassische Figuren-, Bilder- und Objekttheater, spielt virtuos mit hybriden Formen. So war es etwa bei der jungen Slowenin Zala Ana Stiglic mit „Victoria 2.“ zu erleben, die in einem ziemlich messiemäßigen Raum mit ihrem Körper, aber auch mit handgeführten Figürchen vor einem Monitor sehr humorvolle Optimierungsversuche zum Thema „Gewinner“ präsentierte. Oder beim Ensemble TJP Strasbourg, das in „At the still Point of the turning World“ das Wunder vollbringt, ein Meer aus dich gehängten kleinen weißen Säckchen per Seilzügen so zu bewegen, dass die Einzelteile in der Wahrnehmung der Zuschauer individuelle Züge bekommen. Im Dialog mit einer Tänzerin, einer nackten Skelettpuppe und einer Musikerin wird in poetischen Bildern an einem fiktiven Ruhepol der Welt vom Verhältnis von Individualität und Gemeinschaft erzählt.

Hinzu kam der Abend der Ausnahmekünstlerin Ilka Schönbein mit ihrem eleganten und hoch präzisen Spiel („Weißt du was ? Dann tanze jetzt!“). Schönbein, die ihr Handwerk noch bei Albrecht Roser gelernt hat, lässt die Figur der Grille zur Musik von Alexandra Lupidi und Suska Kanzler um ihr Leben tanzen und erzählt die Geschichte von der unersättlich nach ewiger Schönheit gierenden Stiefmutter von Schneewittchen. Selten wurden universelle menschliche Eigenschaften so entlarvend und berührend im Figurentheater gefasst.

Produktionen wie „Um Berge zu vernetzen“ des Stuttgarter Ensembles „Gerdas Knochen“ scheinen automatisch jüngere Zuschauer anzuziehen. „Wir brechen mit den tradierten Theatervorstellungen, bei uns muss man nicht still sitzen, man kann aufstehen und sich auch mal ein Bier holen“, sagt Li Kemme von „Gerdas Knochen“ über ihren Parcours zwischen Punkrock und Geschichtenerzählen. Auch Inszenierungen wie „Ramkoers – Kollisionskurs“, bei der die niederländische Gruppe Bot die Wagenhalle rockte, ziehen junges Publikum an.

Ein Höhepunkt: „Kar – Wiederkehr“ des tschechischen Ensembles Studio Damuza

Doch wie können die 30- und 40-Jährigen in so opulente Produktionen wie „Kar – Wiederkehr“ gelockt werden ? „Kar – Wiederkehr“ vom Ensemble Studio Damuza aus Tschechien war einer der vermutlich sehr lange nachwirkenden Höhepunkte der Imaginale 2020. Die verrückte Idee: Anna Kareninas Wahnsinns-Suizid in einem rauschenden Fest zu feiern. Mit dem langsamen Walzer „We are going to die – wir werden in den Tod gehen“ der Musikgruppe Fekete Seretlek wird Anna Karenina zu Grabe getragen. Lautes Gelächter über den Tod begleitet die Formation. Aus dem Rauchfang einer rotierenden Spielzeuglokomotive kringelt Zigarettenrauch. Wann hat man auf der Imaginale je eine so musikantisch wie schauspielerisch mitreißende Hymne auf das Leben erlebt, begleitet vom Gelächter über den Tod? Das Publikum jubelt.

Die Künstler und ihr Publikum, das sind aber auch Ausnahmesituationen wie die im Projektraum des Landesmuseums Württemberg. Mit dem Kommentar „Affentheater“ verließ ein Zuschauer gleich nach Beginn der Inszenierung „Je brasse de l’air“ der jungen französischen Künstler Magali Rousseau und Stéphane Diskus die Vorstellung. Der Grund: Es gab keine Sitzplätze. Das Publikum wurde gebeten, sich im Halbdunkel von einer Lichtquelle zur nächsten zu bewegen und sich aus Sichtgründen dazwischen auf den Boden zu setzen.

Hoffnung auf die übernächste Zuschauergeneration machen die Kinder. Offen und unvoreingenommen verfolgten selbst die Allerjüngsten in den komplett ausverkauften Vorstellungen Märchen-Adaptionen oder die aus dem Altenheim ausgebüxte Marionette Frau Friedel bei ihrer Suche nach ein bisschen Abenteuer. „Wir sind erschöpft, aber glücklich“, so der Kommentar von Fitz-Intendantin Katja Spieß zum Finale. Unwetterbedingt konnten die letzten Festivalkünstler ihren Weg nach Hause oder zur nächsten Vorstellung nur verspätet antreten.