Die Zahl der Fälle von häuslicher Gewalt ist im Kreis stark gestiegen, berichtet die Beratungsstelle.

Böblingen : Ulrich Stolte (uls)

Böblingen - „Jede Veränderung birgt die Gefahr, dass Gewalt entsteht“, sagt Nadine Walch-Krüger von der Böblinger Beratungsstelle bei Häuslicher Gewalt. Und die Veränderungen in Corona-Zeiten sind groß. Die Familien sitzen aufeinander, die berufliche Zukunft ist oft ungewiss, Geldsorgen stellen sich ein. Auch Freizeitbeschäftigungen, die möglicherweise als Ventil dienen, sind nur schwer möglich.

 

„Wenn alle unter Anspannung leben, wird die Grenze zur Gewalt schnell überschritten“, führt die Sozialpädagogin ihren Gedanken weiter. Und die Statistik gibt ihr Recht. Die Zahl der Fälle in Böblingen ist gestiegen: Statt zwei bis drei neue Klientinnen pro Woche, waren es vorige Woche acht neue Fälle, um die sich das Team der Beratungsstelle kümmern musste.

Die Arbeit hat sich verändert

Nicht nur in den Beratungsstellen, auch in den Frauenhäusern hat sich die Arbeit verändert. Während das Böblinger Haus vor ein paar Jahren schloss, gibt es im Kreis Esslingen noch eine solche Einrichtung. Das Esslinger Haus leidet immer schon darunter, dass es zu wenig Plätze gibt und Frauen abgewiesen werden müssen; jetzt sind es noch weniger Plätze. Von ihren 17 Plätzen könnten die Esslinger nur noch zwölf anbieten, damit die Quarantäne- und Hygiene-Regeln eingehalten werden können, berichtet Heike Liekam vom Frauenhaus. Im Landkreis Ludwigsburg sei die Zahl der Fälle leicht gestiegen, ebenso die Anfragen, sagt Arezoo Shoaleh von „Frauen für Frauen“.

Auch die Arbeit der Böblinger Beratungsstelle ist nicht leichter geworden in Corona-Zeiten. Vor allem, weil die Beratungen in den letzten Wochen telefonisch ablaufen mussten. Erst seit den jüngsten Lockerungen der Landesregierung können die Mitarbeiterinnen den Hilfesuchenden wieder persönlich gegenüber treten, wenn auch eine Plexiglasscheibe die Personen trennt und ein Mundschutz vorgeschrieben ist. „Wie soll man ein Gespräch führen, wenn man eine Maske aufhat“, seufzt Nadine Walch-Krüger. Das Thema „Häusliche Gewalt“ ist über und über mit Emotionen besetzt, und die Emotionen sollen sich im Gespräch ihren Lauf bahnen können – das ist leichter, wenn die Gesichter sichtbar sind.

Das Thema ist mit Scham und Angst besetzt

Noch dazu, wo das Thema häusliche Gewalt mit Scham und Angst besetzt ist. Dabei geht es nicht nur um körperliche Gewalt, sondern auch um seelische. Der Unterschied zwischen dem, was man als partnerschaftlichen Streit bezeichnet und psychischer Gewalt ist die Augenhöhe. Ein Streit finde auf Augenhöhe statt, psychische Gewalt erniedrige den Partner, weil es nicht um eine Auseinandersetzung gehe, sondern um Macht und Kontrolle, erläutert Nadine Walch-Krüger. Das Gleiche gilt für die Erziehung von Kindern. Von psychischer Gewalt würde man sprechen, wenn die Grenze zwischen Erziehung und Erniedrigung überschritten wird. Wenn die Kinder zu hören bekommen, „du kannst das nicht, du bist zu doof dazu, du lernst das nie“.

Zur Erstberatung kommen die Frauen meistens über eine dritte Person, entweder eine Freundin oder eine Verwandte. Bei diesen Erstberatungen geht es zumeist um Informationen. Wie bekomme ich einen Rechtsanwalt? Wie sieht ein Notfallplan aus, wenn der Partner wieder Gewalt ausübt? Auch Männer, die Opfer von psychischer oder auch physischer Gewalt geworden sind, können sich im ersten Anlauf an die Beratungsstelle wenden, von dort aus werden sie dann zu Spezialisten weitergeleitet.

Besonderes Augenmerk richten die Beraterinnen auf die Kinder. Selbst wenn sie nicht direkt misshandelt werden, sind sie häufig Zeugen der Gewalt. Rund 77 Prozent der Kinder von misshandelten Frauen werden selbst misshandelt. Aber selbst wenn sie nicht unmittelbar beteiligt sind, erleben sie diese Situationen als negative Vorbilder und es ist kein Zufall, dass aus misshandelten Kinder wieder misshandelte Erwachsene werden.

Viele Hilfesuchende geben sich selbst die Schuld an der Situation. Hier ist es wichtig, sagt Nadine Walch-Krüger, den Sachverhalt klar zu benennen. Den Frauen zu sagen, dass sie Opfer psychischer Gewalt geworden sind. Dann geht es um die mühsame Arbeit, mögliche Schuldgefühle aufzulösen und den Frauen die Freiheit zu geben, die sie brauchen, um ihren eigenen Weg zu gehen. „Wir sind keine Therapeuten“, sagt Nadine Walch-Krüger. „Welchen Weg die Frauen dann einschlagen, das müssen sie selbst entscheiden.“