Ein 22-Jähriger steht vor Gericht, weil er bei einer Kontrolle ein Messer gezückt hat. Er hatte vorher getrunken und Ecstasy geschluckt. Für solche Situationen soll das überarbeitete Einsatztraining Beamte besser wappnen.

Plötzlich zückt der 22-Jährige ein Messer. Damit haben die Polizeibeamten nicht gerechnet. Sie wollten den Mann, der in der Böblinger Bahnhofstraße krakelt, lediglich zur Ruhe mahnen. Doch jetzt ist die Situation eine völlig andere. Zumal der 22-Jährige, der einiges getrunken und Ecstasy geschluckt hat, nicht daran denkt, klein beizugeben. Während die Beamten versuchen, ihn zu überwältigen, wehrt er sich mit Händen und Füßen. Das geht nicht ohne Blessuren ab.

 

Wegen der Aktion hat sich der 22-Jährige jetzt vor dem Böblinger Amtsgericht verantworten müssen: Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, vorsätzliche Körperverletzung und Bedrohung lauteten die Vorwürfe. Alltag für den Amtsrichter – aber auch Arbeitsalltag der Polizei. Es vergeht kaum eine Woche, in der sie nicht von solchen Zusammenstößen berichtet, und nicht nur im Kreis Böblingen. Vor allem in städtischen Gebieten sei das ein Problem, sagt der Sprecher des Ludwigsburger Polizeipräsidiums Frank Buth. Das beobachtet ebenso Klaus Hinderer, Sprecher des Polizeipräsidiums Aalen, das seit Jahresbeginn auch für den Rems-Murr-Kreis zuständig ist: „Widerstand gegen Polizisten verzeichnen wir vor allem in Waiblingen und Fellbach.“ Und in Stuttgart stieg die Zahl der Fälle von 219 im Jahr 2009 auf 316 im Jahr 2012. Im vergangenen Jahr nahm sie erstmals wieder ab: 250 Fälle wurden gezählt.

Die Uniform schützt die Beamten im Streifendienst offenbar schon länger nicht mehr vor Beleidigungen und Attacken. Ein Zeichen mangelnden Respekts. „Das ist ein gesamtgesellschaftliches Problem“, sagt Joachim Kepplinger, Psychologe und Leiter der Koordinierungsstelle für Konflikthandhabung und Krisenmanagement an der Polizeihochschule Baden-Württemberg. Auch Lehrer, Rettungskräfte, Krankenschwestern, Bus- und Taxifahrer könnten ein Lied davon singen.

Mit 1,58 Promille im Blut Polizisten attackiert

Mit der Erklärung der Ursachen des Phänomens tun sich die Fachleute allerdings schwer. Es gebe in der Gesellschaft Kreise, die sich gedemütigt fühlten, so Kepplinger. Manche reagierten aggressiv, wenn sie auf Polizisten träfen, die Vertreter dieses Systems. Das sei nur eine Ursache, sagt hingegen Joachim Lautensack: „Da kommen viele Dinge zusammen.“ Der Vorsitzende des Landesverbands Baden-Württemberg der Deutschen Polizeigewerkschaft zählt weitere Faktoren auf wie etwa die Herkunft aus anderen Kulturkreisen, das Konflikt- und Aggressionspotenzial, die enge Wohnverhältnisse bergen würden, aber auch der Trend hin zu Events wie das Public Viewing bei Fußball-Weltmeisterschaften und Schulabschlusspartys, bei denen viele Personen im öffentlichen Raum zusammenkommen und bei denen vor allem eines fließe – Alkohol.

1,58 Promille hat zum Beispiel der 22-Jährige aus dem Kreis Böblingen im Blut, als er in der Bahnhofstraße das Messer mit einer 15,5 Zentimeter langen Klinge zieht. Nur mit Gewalt ist er zu bändigen, in der Zelle randaliert er weiter. Der junge Mann passt in das Bild derjenigen, die sich bevorzugt mit Polizeibeamten anlegen: alkoholisierte Männer. Im Kreis Böblingen etwa waren im vergangenen Jahr mehr als 59 Prozent der Verdächtigen, die Polizeibeamten gegenüber gewalttätig geworden sind, alkoholisiert. Im Kreis Ludwigsburg waren es fast 69 Prozent, in Stuttgart sogar etwas mehr als 74 Prozent. „Alkohol enthemmt“, sagt der Psychologe Kepplinger. Die Leute würden sich überschätzen.

Weil die Polizei der Entwicklung nicht mehr tatenlos zusehen will, hat sie das Einsatztraining, das die Beamten regelmäßig durchlaufen, überarbeitet. „Provokationen werden nicht mehr geduldet“, sagt Roland Bolay. Das heiße aber nicht, dass die Polizei brutaler werde. Bolay ist zuständig für die Koordination und Entwicklung des Trainings beim Institut Einsatztraining, das Teil der Polizeihochschule Baden-Württemberg ist. Die neue Strategie beginne damit, dass die Beamten nicht mehr tatenlos zusähen, wenn jemand auf der Rücklehne einer Bank sitze, mit den Füßen auf dem Sitzbereich, oder sie bei einer Kontrolle mit dem Smartphone filme. Mit bestimmtem Auftreten sollen sich die verstärkt psychologisch geschulten Polizisten wieder Respekt verschaffen. Dass das erst recht Konflikte birgt, weiß Bolay. Aber er hofft, dass das konsequente Durchgreifen am Ende doch dazu führt, dass die Provokationen und Übergriffe auf seine Kollegen ausbleiben. Ein Teil des neuen Konzept könnten auch mehr Berichte über die Vorfälle sein.

Elektroschockgeräte für Beamte?

Die Ausbildung sei gut, sagt Lautensack. Aber bestimmtes Auftreten und ordentliche Uniformen gehen ihm nicht weit genug. Man müsse auch über die Ausrüstung der Beamten mit Elektroschockgeräten etwa nachdenken, fordert Lautensack.

Der 22-Jährige jedenfalls hat in jener Nacht im Mai vergangenen Jahres in Böblingen Glück gehabt. Das Messer zu zücken „war eine große Dummheit“, sagt der Richter Werner Kömpf. Denn einer der Polizisten habe, um seinen Kollegen zu schützen, mit seiner Pistole „auf den Kopf“ des Angreifers gezielt, wie der als Zeuge geladene Beamte vor Gericht sagt. Den Angeklagten verurteilt Kömpf zu sieben Monaten, die er auf zwei Jahre zur Bewährung aussetzt. Widerstand gegen Polizeibeamte „ist kein Kavaliersdelikt“, sagt Kömpf – und spricht damit so manchem Polizisten aus der Seele.