Im Waldorfkindergarten der etwas anderen Art werden Kreativität und Bewegungsdrang gefördert – 90 Prozent der Kindern haben einen Migrationshintergrund. Erzogen wird nach Rudolf Steiner, aber ohne Dogma.

Lokales: Sybille Neth (sne)

Stuttgart - Laurin findet, dass das alte Haus auf dem Schwarzweiß-Foto aussieht wie „eine echte alte Mühle“. Tatsächlich war es ein herunter gekommenes Handwerkerhaus, das ein paar Idealisten 1984 der Stadt für eine Mark abgekauft haben und es als Sozialprojekt von Grund auf saniert haben. Laurin geht dort täglich ein und aus, denn es ist sein Kindergarten, der auf der Fotografie zu sehen ist: Allerleirauh in der Rosenstraße im Bohnenviertel feiert in diesen Jahr seinen 30. Geburtstag – und beweist, dass auch ungewöhnliche Ideen Realität werden und überleben können.

 

Auch vier Flüchtlingskinder kommen jetzt

Allerleirauh ist als Waldorfkindergarten 1986 mitten in einem sozialen Brennpunkt gestartet. Noch heute unterscheidet ihn vieles von den klassischen Waldorfeinrichtungen: Er ist ein Bedarfskindergarten für das Viertel, die Eltern bezahlen den städtischen Regelsatz, die Familien kommen nicht aus dem Bildungsbürgertum – und vor allem: die Kindergartengruppe, das Tagheim und den Schülerhort besuchen Kinder, von denen 90 Prozent aus Familien mit Migrationshintergrund kommen. Seit kurzem sind auch vier Flüchtlingskinder dabei. Insgesamt besuchen 55 Kinder zwischen drei und zwölf Jahren die Einrichtungen von Allerleirauh.

Kasperletheater als Alternative zum Fernseher

Die Herkunft der Kinder macht Allerleirauh zu einem etwas anderen Waldorfkindergarten und fordert von den Pädagogen mehr Toleranz als in den klassischen Einrichtungen, die nach Rudolf Steiner arbeiten. „Als die Kinder einmal ihr Lieblingsspielzeug mitbringen durften, schleppte ein Junge einen riesigen Plastik-Dino an“, erzählt Erzieherin Ursula Lapropoulos. „Wir waren davon natürlich nicht sehr begeistert, wollten ihm das Plastikteil aber nicht wegnehmen. Und siehe da, er hat um seinen Dino eine sehr fantasievolle kleine Welt gebaut“, erinnert sie sich.

Diese Geschichte ist charakteristisch für die Einrichtung. „Wir wollen nicht die Eltern verändern, sondern wir wollen etwas Ausgleichendes für die Kinder in die Waagschale werfen“, betont Ursula Lapropoulos, die als Gründungsmitglied im Viertel bekannt ist wie eine Prominente. Sie begleitet mittlerweile die dritte Generation Kinder im Bohnenviertel. „Wir setzen gegen den Fernseher Geschichten und Kasperletheater, wir gehen in den Wald und wir fördern den Bewegungsdrang der Kinder“, umreißt sie grob das Konzept.

Spielen auf der Straße ist erlaubt

Zum Rennen und Toben darf der Kindergarten den Mittelstreifen mit Bäumen in der Rosenstraße nutzen. Außerdem hat der Trägerverein vor einigen Jahren an den Hängen Hedelfingens einen Garten gepachtet. Dort verbringen die Kinder bei schönem Wetter den Tag mit Spielen, Lägerle bauen, Feuer machen und gärtnern. Die Älteren aus dem Schülerhort mit Sitz am Olgaeck übernachten dort hin und wieder, und ein Highlight ist das alljährliche Gartenfest zu dem die Eltern Spezialitäten aus ihren Heimatländern den Berg hochschleppen.

Umgang mit natürlichen Materialien

Angelika Ströbele ist praktisch seit der Gründung des Kindergartens seine direkte Nachbarin und findet, „Kinder müssen und dürfen laut sein.“ An Weihnachten freut sie sich jedes Jahr, wenn sie von den Kindergartenkindern eine selbst gebastelte Karte im Briefkasten findet. Einen bleibenden Eindruck hat Allerleirauh auch bei Matthias Kuhn hinterlassen. Er leistete hier vor fünf Jahren ein freiwilliges soziales Jahr ab. Dann machte er eine Ausbildung im Handwerk und mittlerweile kommt er häufig, um mit anzupacken. Der junge Mann hat hier seine wahre Berufung gefunden und beginnt jetzt mit 22 Jahren eine Ausbildung zum Waldorferzieher. „Mir hat der Umgang mit den natürlichen Materialien hier besonders gut gefallen“, berichtet er.

Spuren von 30 Jahren Kinderfüßen

Auch die Eltern sind immer zur Stelle, wenn es klemmt: Zum Beispiel in der Küche, in der jeden Tag ein vegetarisches Mittagessen gekocht wird. „Die sind sehr hilfsbereit, aber Geld haben sie eben keines“, sagt Ursula Lapropoulos mit Blick auf die anstehende Renovierung der Fußböden. „30 Jahre sind da jetzt Kinderfüße darüber gelaufen, jetzt müssen sie geschliffen und neu versiegelt werden.“ 25 000 Euro muss der Verein dafür zusammenkriegen. Am Regelbetrieb übernimmt die Stadt drei Viertel der Kosten. Ein Viertel muss der Verein selbst erwirtschaften.