Die Vergangenheit ist nicht so weit weg wie sie scheint: eine 500 Kilo schwere Weltkriegsbombe führt in Berlin zu einer riesigen Evakuierung. Die Entschärfung findet gezielt an diesem Freitag statt.

Berlin - Als Stefano das Wort Bombe hört, zeichnet sich kurz ein Schreck in sein Gesicht. „Keine Sorge, kein Terror, es ist eine alte Bombe“, sagt die Bahn-Mitarbeiterin beruhigend zu dem 21-Jährigen. Das stimmt. Mehr als 70 Jahre ist es her, dass die todbringende Fracht aus dem Bauch eines englischen Flugzeugs auf Berlin geworfen wurde und nicht detonierte. Die Vergangenheit des schrecklichen Krieges wirkt im normalen Alltag so weit entfernt – dabei ist sie ganz dicht unter der Oberfläche noch da.

 

Die alte Bombe hat noch viel Kraft: am Freitagvormittag legt sie in Berlins Mitte vom Zugverkehr bis zum Bundesnachrichtendienst so ziemlich alles lahm. Vor ein paar Tagen wurde der 500 Kilo schwere Blindgänger auf einer Baustelle hinter dem Hauptbahnhof gefunden – seitdem ist klar: die explosive Altlast muss so rasch wie möglich entschärft und beseitigt werden.

Eine Evakuierungsaktion dieser Dimension hat es in der Stadtmitte noch nicht gegeben. Geplant ist die Entschärfung für den Freitagmittag – mitten im Wochenendreiseverkehr muss ein Sperrkreis von 800 Metern komplett geräumt werden und das mitten in der Metropole. Das bedeutet: Zum ersten Mal in seiner zwölfjährigen Geschichte muss der Hauptbahnhof geleert werden, dazu das Wirtschafts- und das Verkehrsministerium, das Landessozialgericht, der Bundesnachrichtendienst, das Bundeswehrkrankenhaus, einige Hotels und die Wohnungen von etwa zehntausend Menschen. Allein auf dem Hauptbahnhof sind pro Tag 300 000 Menschen unterwegs.

Die Mitte von Berlin ist wie erstarrt

Stefano, 21 Jahre alt, aus Lucca, hat in seinem Hostel in Friedrichshain von alldem nichts mitbekommen. Es ist jetzt zehn, der Italiener muss dringend zum Flughafen und die App auf seinem Smartphone hat ihn schnurstracks zum Hauptbahnhof geführt. Aber hier halten keine Züge mehr, demnächst wird der Verkehr komplett gestoppt. Die meisten Reisenden haben sich allerdings schon vorher darauf eingestellt. Für sie bedeutet die Umstellung kein Chaos. Wer zum Beispiel mit der Fernbahn reist, der kann häufig einfach in den weiter außerhalb liegenden großen Bahnhöfen umsteigen. Die dicke S-Bahn-Achse durch die Stadt liegt zwar lahm, aber man kann auf den Ring ausweichen.

Nur die Mitte, die ist wie erstarrt. Sicherheitsleute führen die letzten Umherirrenden aus dem Bahnhof, die Invalidenstraße, sonst eine langsam durch die Stadt schiebende Blechschlange, ist leer. Die Polizei geht von Haus zu Haus – wer darauf beharrt hat, in seiner Wohnung zu bleiben, wird nicht gezwungen sie zu verlassen. In einer der zwei Sammelunterkünfte sitzt eine Handvoll Leute.

Warum legt man eine solche Entschärfung ausgerechnet auf einen Freitagvormittag und nicht zum Beispiel auf Samstagfrüh um vier? Winfried Wenzel, Sprecher bei der Berliner Polizei, erklärt die Abwägung: „Unsere Feuerwerker müssen hellwach und hoch konzentriert arbeiten“, sagt er. „Da gehen wir mit Nachtstunden kein Risiko ein.“ Auch für demente oder bettlägerige Menschen in den umliegenden Heimen wäre die Evakuierung in der Nacht viel verwirrender und anstrengender. Am Samstag tagsüber stellen sich andere Probleme: zum Beispiel Demos, die geschützt werden müssen, Parks, die evakuiert werden müssten. Länger warten wollte man auch nicht.

Noch 3000 Blindgänger liegen im Boden

„Wobei die Bombe, so lange jetzt keiner mit dem Hammer draufhaut, derzeit nicht gefährlich ist“, sagt Susanne Bauer. Sie ist Dezernatsleiterin der Berliner Kriminaltechnik und Chefin der Bombenentschärfer. Die haben immer zu tun. Sechs bis sieben solcher Bomben wie diese werden in Berlin pro Jahr unschädlich gemacht, 1200 waren es bisher. „Wir schätzen, dass noch etwa 3000 Blindgänger im Boden der Stadt liegen.“ Bei Exemplaren wie dem aktuellen bleibe ein „geringes Restrisiko“, sagt Bauer. Trotzdem: Die Aufgabe ist lebensgefährlich und die Last der Verantwortung sehr hoch.

Warum macht jemand diesen Job? „Alle Kollegen sind technisch sehr begabt und haben ein Faible für Geschichte“, sagt die Chefin. Wie sieht es mit der psychischen Belastung aus? Redet man darüber? „Das mit dem Reden ist ein schwieriges Thema. Aber alle Mitarbeiter sind psychisch sehr stabil.“ Ihre Männer legen wenig später eine Maschine an den Zünder der Bombe: ein scharfer, dünner, mit Sand durchsetzter Wasserstrahl schneidet mit hohem Druck den Stahl rund um den Zünder durch. Dann kommt noch einmal ein kritischer Moment: Vorsichtig wird die Vorrichtung herausgenommen.

Als die Experten das geschafft haben, ist am Hauptbahnhof ein kurzer Knall zu hören: Der Zünder ist gesprengt, die Gefahr gebannt. Berlins Mitte kann wieder im normalen Rhythmus weiteratmen.