Die US-Rockband Bon Jovi hat in Stuttgart auf dem Cannstatter Wasen gespielt. Die Show zwischen Vorwärtskracher und Powerballade wurde gegen Ende immer besser.

Stuttgart - Auf ihrem neuen Album „What about now“ hat die US-Band Bon Jovi ein bemerkenswert sozialkritisches Lied versteckt: In „What’s left of me“ ist von Fabrikarbeiten die Rede, deren Jobs nach Übersee verlagert wurden, von Bauern. Lehrern, Journalisten, Punkrockern und Gewerkschaftern, deren Alltag schwierig geworden ist. Stolz aus der Ich-Perspektive singt Jon Bon Jovi da mit effektvoll herausgepresstem Mitgefühl von den Verlierern der Globalisierung, von Ausgestoßenen.

 

Er hat dieses Lied in Stuttgart nicht gesungen, und es wäre auch zynisch gewesen, das zu tun. Denn während sich Jon Bon Jovi (51) songwriterisch mit der erweiterten Arbeiterklasse solidarisiert, treibt er in Stuttgart das mächtig aus den USA herüberschwappende Mehrklassensystem bei Open-Air-Konzerten auf die Spitze: Wer sich für immerhin 72 Euro eine gewöhnliche Stehplatzkarte gekauft hat, sieht und hört nicht viel mehr als ein Spaziergänger, der draußen gratis über den Cannstatter Wasen schlendert. Wer 72 Euro zahlt, steht weit weg von der Bühne, dort, wo noch nicht einmal die ausladenden Tribünen (ab 99 Euro) beginnen, die man nahe der Wasen-Mitte aufgebaut hat, um den Platz zu verkleinern, den diesmal nur 30 000 Menschen besuchen. So sieht er voller aus, fast wie vor zwölf Jahren, als Bon Jovi hier noch 68 000 stinknormale Stehplätze verkaufte.

Wer jetzt dort stehen will, wo man ordentlich hört, in der Gegend des Mischpults zum Beispiel, muss 105 Euro für die Kategorie „Golden Circle“ berappen. Und wer vorne an der Bühne stehen möchte, in dem Areal, das Rockfans früher entweder lange vor Konzertbeginn besetzt oder später rempelnd erobert haben und das bei Bon Jovi mittlerweile protzig „Diamond Front“ heißt, wird 170 Euro los.

Keine Zweifel an der Rettung der Welt

Die berechtigten Sicherheitsinteressen, die man seit der katastrophalen Love Parade 2010 in Duisburg bei Großveranstaltungen mit Zwischengattern zu wahren versucht, werden bei diesem Preisgefälle durch Gier pervertiert. So wie die Sicherheitsinteressen der USA seit dem katastrophalen 11. September 2001 durch Gier pervertiert werden. Nicht nur die Freiheit bleibt dabei auf der Strecke, auch die Gerechtigkeit geht vor die Hunde. Ja, auch davon raunt Jon Bon Jovi in Stuttgart, natürlich nur sehr indirekt in neuen Liedern, die „Army of One“, „I’m with you“ oder „Because we can“ heißen und die Möglichkeit des Ausbruchs beschwören, am besten verliebt zu zweit. Sein Amerika steht auf der Kippe.

Aber er lässt weißzähnig lächelnd, engagiert zum Aufbruch ermunternd und sich selbst als Galionsfigur der Aufrechten inszenierend keinen Zweifel daran, dass sich das Land, ach was, die Welt, retten lässt. Und sei’s mit dem rustikalen Vorwärtsgetrommel seines Drummers Tico Torres.

So fängt das an in Stuttgart vor der Kulisse einer überdimensionalen Cadillac-Frontpartie, energisch wie beim verordnet motivierten Schichtbeginn: Im neuen Song „That’s what the Water made me“ absolviert Jon Bon Jovi ein ganzes Arsenal von Rockstarposen, beim alten Hit „You give Love a bad Name“ dürfen die Fans endlich mitsingen. Beim dritten Song, „Raise your Hands“, recken die Fans in der „Diamond Front“ ihre Arme mit den pinkfarbenen Bändchen, während im „Golden Circle“ gelbe Bändchen an den Handgelenken leuchten. Ganz hinten nackte Arme. Würde man diese Szene filmen, könnte sie mit dem entsprechenden Kommentar aus dem Off als Abwehrschlacht der Privilegierten gegen die Schnorrer im All-Inclusive-Hotel durchgehen – und Jon Bon Jovi wirkt wie der Animateur. Es ist bitter.

Richie Samboras Ego fehlt

Vielleicht deshalb guckt er später im programmatischen „It’s my life“ so gequält. Ist das wirklich noch sein Leben? Ist diese Tournee wirklich noch die Leidenschaft eines Mannes, der mehr als alles andere immer das Recht auf Selbstbestimmung propagiert hat? Blinkt da etwa Wehmut unter der offensiv verkörperten Zuversicht hervor? 1983, als Bon Jovi gegründet wurde, hat man in Bands gespielt, um Spaß zu haben; die erhoffte Weltenrettung nahm man als Songwriter einer Rockband billigend in Kauf. Und jetzt? Ist dieser Absahnzirkus wirklich noch Jon Bon Jovis Projekt?

Die Show jedenfalls ist ganz seine, seit der etatmäßige Bon-Jovi-Gitarrist Richie Sambora nach kolportierten Streitigkeiten bis auf weiteres nicht mehr mit ihm auf der Bühne steht. Phil X, der Ersatzmann, spielt Samboras Riffs und Soli nicht schlechter als Sambora selbst, so wie US-designte T-Shirts in Bangladesch nicht schlechter zusammengenäht werden als in den USA. Aber auf der Bon-Jovi-Bühne fehlt das starke Gegenego zum strahlenden Ausbruchskünstler, es fehlt der Typ, der das Verruchte, Schmutzige und Durchgeknallte verkörpert und Bon Jovi dreißig Jahre lang die Legitimität als Rockband verliehen hat.

Jon Bon Jovi selbst streckt sich, so sehr er kann. Als er „Because we can“ singt, streckt er sich gar so sehr, als versuche er, eine Glühbirne in die Deckenlampe zu schrauben. Er heftet an dieses Lied, das in der Studioversion mit Richie Samboras Gitarrengewitter endet, einen extra Solorefrain allein mit der Westernklampfe. Und er dehnt seine Stimme, die gut und stark klingt, aber wie immer ein bisschen so verstellt, als versuche ein Schlachthofbesitzer aus New Jersey wie ein Cowboy aus dem Wilden Westen zu klingen. Jon Bon Jovi braucht an diesem Abend lange, exakt bis zum 15. Song, bis dieses Konzert wirklich sein Konzert wird. Bis dahin steuern andere die Höhepunkte bei: David Bryan zum Beispiel, der Keyboarder, der den Bon-Jovi-Werbeauftritt im Januar im Club Zapata beinahe mit süßlicher Soundsoße ersäuft hätte, offeriert nun kernige Orgelsoli.

Befreiung zum Schluss

Dann aber, bei „Wanted dead or alive“, befreit sich Jon Bon Jovi in einem Akt, den man selbstironisch nennen könnte: Er lässt diesen Song, in dem die Vorwärtsrockband ihre County-Affinität am ungeniertesten zelebriert, einen elfjährigen Buben namens Marko singen, der das gut macht. Der Star selbst begnügt sich mit Geschrammel auf der Westerngitarre und Lächeln. Wenig später, bei „Who says you can’t go home“, lädt er die österreichische Popsängerin Christina Stürmer zum Duett, das spritzig wird, obwohl es unglücklich beginnt: Stürmer will, wie in Linz üblich, links und rechts küssen. Aber Jon Bon Jovi, erkennbar in Eile, duckt sich vor dem zweiten Bussi weg. Er braucht mehr Energie als früher, um in einer komplizierter werdenden Welt zielgenau auf den Ausgang zuzusteuern.

Doch es gelingt ihm noch: Der Song „Bad Medicine“, der letzte vor den Zugaben, explodiert förmlich, weil Jon Bon Jovi plötzlich ganz lastenfrei agiert. Dann singt er hingebungs- und zugleich demutsvoll „Amen“, eine der schönsten Balladen, die er in den letzten Jahren geschrieben hat, und verabschiedet sich mit einer brodelnden Version der Hymne „Livin’ on a Prayer“, wo von einem streikenden Hafenarbeiter die Rede ist, von einer rödelnden Bedienung und von der Kraft der Liebe.

Am Ende scheint es, als habe Jon Bon Jovi seine wiedergefunden – die Musik.