Alexander Zverev hat das Finale der US Open dramatisch knapp gegen Dominic Thiem verloren. Legende Boris Becker ist überzeugt, dass im Herren-Tennis eine Wachablösung begonnen hat.

Sport: Jürgen Kemmner (jük)

New York/Stuttgart - Das Handy bleibt aus. Das hatte Alexander Zverev beschlossen, auch wenn er gerne zu Hause anrufen wollte. Auch wenn er dann ohne einfühlsame Worte des Trostes von seinen Eltern leben musste. Eine Maßnahme als Selbstschutz. „Die ,Es tut mir leid-Nachrichten’ wollte ich nicht lesen. Aber ich werde mit meiner Familie reden. Was soll ich machen? Ich kann mich ja nicht verstecken“, sagte der Tennis-Profi. Keine Stunde zuvor hatte der 23-Jährige das Finale der US Open gegen seinen Kumpel aus Österreich verloren – in einem vierstündigen, nicht durchgängig hochklassigen, aber am Ende höchst dramatischen Match triumphierte Dominic Thiem 2:6, 4:6, 6:4, 6:3, 7:6 (8:6).

 

Das tat weh. Nach dem Matchball überrollte Alexander Zverev ein Tsunami der Gefühle, in dem eine Woge aus Sportsgeist, Schmerz und Stolz über den Hamburger hereinbrach. Erst umarmte er unter Missachtung der strengen Corona-Regeln den Kollegen, doch wer mochte ihm das verdenken? Bei der Siegerehrung konnte Zverev die Tränen kaum unterdrücken, als er seinen Eltern dankte, die wegen der Corona-Erkrankung seines Vaters entgegen den üblichen Gepflogenheiten nicht mitgereist waren. „Ich bin sicher“, sagte er mit zitternder Stimme, „dass sie stolz auf mich sind, auch wenn ich verloren habe.“

Das ist sicher anzunehmen, denn diese Niederlage, diese unnötige, weil Zverev im dritten Satz und im Tie-Break nur Zentimeter vom Triumph entfernt war, weil er in den abgegebenen Sätzen nicht nur eine Chance verpasst hatte, diese Niederlage war eine über die Maßen ehrenvolle – keine, für die er sich hätte schämen müssen, wie er das schon erlebt hat, als er bei Turnieren irgendwo zwischen Runde eins und Achtelfinale peinlich gescheitert war.

Boris Becker, der Tennis-Übervater aus Leimen, der letzte deutsche Männer-Profi, der ein Grand-Slam-Turnier gewinnen konnte, es waren die Australian Open 1996, erteilte Zverev nach dem Tiefschlag von Thiems erfolgreichen Matchball seine Absolution. „Die Wachablösung ist eingeläutet worden“, meinte der 52-Jährige als TV-Experte, wo er ebenfalls ein Tränchen wegdrücken musste, „die junge Generation hat aufgeschlossen. Dominic Thiem hat es verdient, und Sascha Zverev wird die Chance wieder bekommen.“

An den großen Drei kommt kaum einer vorbei

In Flushing Meadows hatte sich eine einzigartige Chance geboten, ein Tennis-Schnäppchen, eines der vier wichtigsten Turniere zu gewinnen – denn die Großen Drei waren verhindert. Der Schweizer Roger Federer (39/20 Grand-Slam-Einzeltitel) fehlte verletzungsbedingt, der Spanier Rafael Nadal (34/19) verzichtete wegen Corona, der Serbe Novak Djokovic (33/17) wurde im Achtelfinale disqualifiziert, weil er aus Frust den Ball weggeschlagen und (versehentlich) eine Linienrichterin am Hals getroffen hatte. Damit war der Weg frei für einen Sieger jenseits des Triumvirats. Thiem war ein wenig präsenter als Zverev, und erfüllte sich den Traum; der 27-Jährige aus Wiener Neustadt ist der erste Grand-Slam-Champ seit Stan Wawrinka (Schweiz) 2016 bei den US Open, der nicht Djokovic, Nadal oder Federer heißt. „Ich wünschte, es könnte heute zwei Sieger geben“, sagte der Österreicher und richtete sich an Zverev: „Du wirst es auch noch schaffen, Du wirst den Pokal irgendwann nach Hause bringen.“

Thiem (jetzt Nummer drei in der Welt) und Zverev (Nummer sieben) sind keine Überraschungsgäste in einem großen Finale, sie sind zwei der Kronprinzen, die sich um die Nachfolge der Großen Drei in Stellung bringen neben dem Russen Daniil Medvedev (24) und dem Griechen Stefanos Tsitsipas (22). Der Deutsche wird an der so unnötigen Niederlage nicht zerbrechen, das belegt seine Aussage, als er damit beschäftigt war, das Finale irgendwie zu verdauen. „Ich bin 23 Jahre alt, ich denke nicht, dass es meine letzte Chance war. Ich glaube, dass ich eines Tages einen Grand Slam gewinnen werde.“

Zverev ist reifer und geduldiger geworden

Es sprach nicht der überhebliche Jungstar, es sprach einer, der viel gelernt hat in den vergangenen Monaten. Es ist nicht lange her, da gab der Hamburger den Zornigen oder den Ungeduldigen oder er scheiterte arrogant an unerfüllbar hohen Ansprüchen. Zverev gibt sich geläutert, betont, er habe gelernt, dass eine Karriere „eher einem Marathon gleicht, als einem Sprint“. Zur geistigen Reife mit mehr Ruhe und Abgeklärtheit gesellt sich der neue Trainer David Ferrer, ein geduldiger Mann, der aus diesen Materialien einen Champion formen will. In New York war der Spanier nicht dabei, bei den French Open in Paris, die am 21. September beginnen, will er Zverev coachen.

Es wird eine Bewährungsprobe für die Ambitionen des Deutschen, denn die Namen Djokovic und Nadal tauchen auf der Setzliste von Roland Garros auf. Seit 2005 ist es nur Stan Wawrinka vor fünf Jahren gelungen, die Siegesserie der Großen Drei in Paris zu stören, Thiem stand 2018 und 2019 im Finale und unterlag Nadal. Alexander Zverev hat immerhin einige seiner größten Erfolge auf Sand erzielt ...