Großbritannien will das Nordirland-Protokoll neu zu verhandeln und die Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs einschränken. Die EU darf sich darauf nicht einlassen.

Korrespondenten: Knut Krohn (kkr)

Brüssel - Der Brexit ist im Grunde eine klare Sache. Die Regeln für den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union sind in jahrelanger und mühsamer Kleinstarbeit festgezurrt worden. Dass London nun den Streit um die Grenzen in Nordirland neu entfacht, ist deshalb völlig unverständlich und wirft einige sehr fundamentale Fragen auf. Sind die britischen Verhandlungsführer tatsächlich so dilettantisch und kurzsichtig oder einfach nur rücksichtslos auf den eigenen politischen Erfolg bedacht?

 

Eine bodenlose Provokation Londons

Die Forderung, das gesamte Protokoll grundsätzlich neu zu verhandeln und die Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs für Nordirland aufzuheben, ist eine bodenlose Provokation. Die Kommission in Brüssel wird die Hoheit über den Binnenmarkt auf keinen Fall aus der Hand geben. Es war von Anfang an klar, dass die erzielte Regelung viel Verantwortungsgefühl und eine große Portion an Pragmatismus auf beiden Seiten verlangt. Für alle war es schwer zu akzeptieren, dass Nordirland als britischer Landesteil auch nach dem Austritt weiter Teil des europäischen Binnenmarkts sein würde.

Bezeichnend für das wankelmütige Vorgehen Großbritanniens im gesamten Verhandlungsprozess ist, dass diese nun auf dem Tisch liegende Forderung ausgerechnet von jenem Mann formuliert wird, der das Nordirland-Protokoll für London maßgeblich ausgehandelt hat. Der britische Brexit-Minister David Frost steuerte damals offensichtlich sehenden Auges in diese Konfrontation. London wollte den Abschluss der Verhandlungen dem eigenen Volk unbedingt als Erfolg verkaufen. Völlig bizarr wird die Situation dadurch, dass die Briten nun die EU für den Vertragsbruch verantwortlich machen und ihr gleichzeitig auch die Schuld für eine mögliche Eskalation der Gewalt in Nordirland in die Schuhe schieben.

London will eigenes Versagen verschleiern

Die Absicht der Regierung in London liegen auf der Hand: sie will mit ihrem populistischen Schachzug die Gefühle der Nationalisten auf der Insel bedienen. Zur bitteren Wahrheit gehört aber auch, dass die Brexit-Verantwortlichen mit ihren Kapriolen vor allem von den gravierenden Problemen ablenken wollen, die inzwischen deutlich sichtbar werden. Fraglich ist, wie lange die Briten die leeren Supermarktregale und Probleme beim Spritnachschub noch klaglos hinnehmen werden. Zu befürchten ist, dass Premierminister Boris Johnson und seine Minister zu immer neuen Angriffen auf die EU ansetzen werden, um die Verantwortung für die Misere von sich wegzuschieben.

Im Grunde hat sich London als ernst zu nehmender Partner nun final diskreditiert, dennoch wird die Europäische Union weiter verhandeln müssen. Zu kleinen Zugeständnissen dürfte Brüssel sich durchringen. Doch die Europäische Union muss darauf vorbereitet sein, dass Großbritannien das Nordirlandprotokoll einseitig aufkündigt. Das heißt, dass die Union dann im Gegenzug etwa Strafzölle auf britische Waren und Dienstleistungen verhängen muss.

Durchsichtiges Kalkül der Briten

London scheint überzeugt, dass Brüssel einknickt und diesen folgenreichen Schritt nicht wagen wird. Das Kalkül ist offensichtlich: die Verantwortlichen in der Kommission werden den Vertragsbruch hinnehmen, weil sie den labilen Frieden in Nordirland durch einen drohenden Handelskrieg nicht in Gefahr bringen wollen. Doch die Europäische Union darf in diesem Fall nicht nachgeben, will sie ihre Glaubwürdigkeit und damit sich selbst nicht nachhaltig beschädigen. Brüssel muss den verantwortungslosen Taktierern auf der Insel zeigen, dass sie sich dieses Mal mächtig verkalkuliert haben.