Die EU will beim Brexit nur Aufschub bis zur Europawahl geben. Kommt bald das nächste Krisentreffen?

Korrespondenten: Markus Grabitz (mgr)

Brüssel - In sieben Tagen steht der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU auf dem Kalender. Klar ist, dass keine der beteiligten 28 Regierungen einen ungeordneten Brexit will. Und doch ist völlig unklar, wie das Chaos verhindert werden kann. Das ist die Ausgangslage, als die Staats- und Regierungschefs der EU am Donnerstagnachmittag zu ihrem Frühjahrsgipfel in Brüssel zusammenkommen.

 

Vor diesem Hintergrund ist erstaunlich, dass keiner der Teilnehmer Nerven zeigt. Nur eine Politikerin weist deutlich darauf hin, dass möglicherweise Tage voller Drama kommen werden. Es ist die dienstälteste unter den Staats- und Regierungschefs und eine, die nicht gerade zu Übertreibungen neigt. Kanzlerin Angela Merkel sagt: „Man muss sich die historische Bedeutung des Ereignisses bewusst machen. Deshalb müssen wir behutsam vorgehen.“

Merkel mahnt

Merkel rechnet damit, dass sie und ihre Kollegen bis zum buchstäblich letzten Moment gefordert sein können. Sie werde „bis zur letzten Stunde alles daran setzen, dass es einen geordneten Austritt geben kann.“ EU-Ratspräsident Donald Tusk, der Gastgeber und Moderator des Gipfels, sieht es ähnlich. Er schwört in seinem Einladungsschreiben die „Chefs“ auf „Geduld und guten Willen“ ein – an „diesem höchst kritischen Punkt“ des Verfahrens.

Blitzschnell hatten sich die Staats- und Regierungschefs der EU der 27 tags zuvor auf die neue Linie verständigt, als die britische Premierministerin Theresa May per Brief um Aufschub des Austritts bis 30. Juni bat. Die Antwort aus Brüssel lautete: Nein, allenfalls könne der Austritt bis zur Europawahl (23. bis 25. Mai) verschoben werden. Und dies auch nur, wenn May im Laufe der nächsten Woche eine Zustimmung im britischen Unterhaus für den Austrittsvertrag bekommt.

Das klang vor einigen Tagen noch ganz anders. Das Kalkül für das Pochen auf dieser kurzen Variante der „technischen Verlängerung“ ist klar: Die Briten sollen nicht mehr an der Europawahl teilnehmen, um Komplikationen zu vermeiden. Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz sagt: „Es wäre absurd, wenn ein Land, das die EU bald verlassen will, noch an der Europawahl teilnimmt.“

May hat ihre Stimme wieder

Hintergrund ist: Sollte London auch bis Ende Juni keine Zustimmung zum Austrittsvertrag organisieren können und über die konstituierende Sitzung des neuen Europaparlaments am 2. Juli hinaus in der EU bleiben, wäre die Europawahl anfechtbar. Denn jedes Land, das in der EU ist, muss an der Wahl teilnehmen.

Der französische Präsident Emmanuel Macron formuliert deutlich, was die EU May auf den Tisch gelegt hat: Entweder stimmt das britische Parlament nächste Woche für den Austrittsvertrag, „oder wir gehen Richtung ,No Deal‘“.

Die britische Premierministerin, die bei der letzten Abstimmungsniederlage im britischen Unterhaus wegen einer Erkältung kaum zu verstehen war, hat bei ihrer Ankunft in Brüssel ihre Stimme annähernd wieder. Sie braucht sie auch, weil sie gleich zum Gipfelauftakt der Runde der 27 ihren Plan vorlegen soll. Merkel sagt: „Der Diskussion mit der britischen Premierministerin kommt große Bedeutung zu“. May will ein drittes Mal die Abstimmung im Unterhaus wagen. Es heißt, es gebe Bewegung im Unterhaus. Womöglich schafft sie es, die Mehrheit zu organisieren.

Gibt es einen Deal?

Vielleicht unter der Zusage, dann schnell den Platz in der Downing Street für einen Nachfolger frei zu machen. Die Weigerung des Unterhauses, noch einmal über den gleichen Antrag abzustimmen, könne, so hört man, vermutlich mit kleinen kosmetischen Änderungen am Text umgangen werden. Allerdings: May lässt sich von den Signalen aus Brüssel, dass nur eine technische Verlängerung bis zur Europawahl infrage kommt, nicht beirren. Vor dem Gipfel macht sie noch einmal deutlich, dass sie für die längere Variante, also die Verschiebung bis Ende Juni werben will.

Und was passiert, wenn May die Mehrheit nicht organisieren kann? „Falls das Unterhaus das Austrittsabkommen nicht annimmt, müssen wir zurückkommen“, sagt EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Und was soll dabei beschlossen werden? Wird man den Briten dann anbieten, länger drin zu bleiben, an den Wahlen teilzunehmen, aber sich an den Abstimmungen zu den wichtigen Zukunftsentscheidungen nicht mehr zu beteiligen? Also nicht mehr an der Wahl des nächsten Kommissionspräsidenten mitzuwirken, nicht an der Verabschiedung des Finanzrahmens bis 2027? Auf diese Fragen gibt es keine Antwort. Derartige Planspiele werden allenfalls hinter vorgehaltener Hand geführt. Dabei tickt die Uhr.