Bruce Springsteen hat sich für „Letter to you“ wieder mit seiner E Street Band zusammengetan, schaut in elektrisch aufgeladenen Rockhymnen mehr zurück als nach vorne und versucht sich an einer Liebeserklärung an den Rock ’n’ Roll.

Freizeit & Unterhaltung : Gunther Reinhardt (gun)

Stuttgart - Zu einem schlurfenden Beat verabreden sich High-Society-Vamps und Cheerleader-Tramps zum Rendezvous, verwirrte Schwergewichtschampions treffen auf laute weiße Jungs, Billy the Kid legt sich mit Junkie-Schafen an, und all die Menschen auf der Flucht werden vom Brummen eines Verstärkers in den Schlaf gesummt. „Song for Orphans“ ist die ungestüm-üppige dylaneske Fantasie eines jungen Songwriters aus Long Branch, New Jersey, geschrieben Anfang der 1970er. Damals kannte keiner seinen Namen. Inzwischen ist Bruce Springsteen, 71, ein amerikanischer Mythos, und er staunt selbst ein bisschen über die seltsamen Geschichten, die er sich als 20-Jähriger ausgedacht hat, und die vielen Worte, die er damals in seine Lieder stopfte.

 

Drei Songs aus der „Greetings from Asbury Park“-Zeit

„Song for Orphans“ ist einer von drei bisher unveröffentlichten Songs aus den 1970ern, die Springsteen für das Album „Letter to you“, das an diesem Freitag erscheint, aufgenommen hat. In einem Dokumentarfilm, der zeitgleich mit der Platte beim Streamingdienst Apple TV+ veröffentlicht wird, erinnert sich Springsteen daran, wie es war, jung, hungrig und besessen davon zu sein, seine eigene Stimme zu finden – und er erzählt aus der Zeit, als gerade sein Debütalbum „Greetings from Asbury Park, N. J.“ (1973) erschienen war und ihm ein Mann von der Plattenfirma von einem Telefonat berichtete: Der Anrufer ließ Springsteen ausrichten, er solle bitte aufpassen, sonst verbrauche er innerhalb kürzester Zeit die komplette englische Sprache. Der Mann am Telefon war Bob Dylan.

Inzwischen ist Bruce Springsteen neben Bob Dylan die wichtigste Erzählstimme im großen amerikanischen Rock-’n’-Roll-Songbook. Auch weil er selbst wie dieses wilde, unberechenbare Land selbst nie zur Ruhe kommt. Einer der roten Fäden, die sich durch seine Lieder schlängeln, die er schreibt, seit er ein Teenager ist, ist die Rastlosigkeit – mal in jugendlichen Posen des Sturm und Drang wie in „Thunder Road“ oder „Born to run“, mal in altersmilde Lakonie getunkt wie in den Songs auf dem Album „Western Stars“, das vor gut einem Jahr erschien.

Die Band verwandelt die Songs wieder in Kraftpakete

Einer wie Springsteen, der eigentlich immer auf Tour ist und dessen Liveshows Naturereignissen gleichen, muss besonders unter den Corona-Einschränkungen leiden. Und dass das Album „Letter to you“ etwas weniger nach einem dieser typischen knarzigen Springsteen-Roadmovies klingt, könnte man als einen Reflex auf die Pandemie missverstehen. Entstanden ist die Platte aber bereits an fünf arbeitsintensiven Novembertagen des Jahres 2019.

Während sich Springsteen sonst meistens als Ich-Erzähler in andere verwandelt, gerne die Rolle des Arbeiterjungen spielt, kreist er diesmal vor allem um sich selbst, erzählt von seinem Leben als Musiker, davon, was es heißt, in einer Band zu spielen – in einer Band wie der E Street Band, die er für dieses Album wieder ins Studio geholt hat. Die Gitarren von Stevie Van Zandt und Nils Lofgren zucken ungeduldig um die Wette, Charlie Giordanos Hammondorgel seufzt, Max Weinbergs Schlagzeug drängelt, und Jake Clemons Saxofon jault unternehmungslustig. Nicht nur in den 1970er-Überbleibseln „Song for Orphans“, „Janey needs a Shooter“ und „If I was the Priest“ setzt die Band die Springsteen-Songs grandios unter Strom. Auch die neuen Nummern verwandeln sich in Kraftpakete. Und das, obwohl Springsteen diesmal als Erzähler eher zur Wehmut als zur Rastlosigkeit neigt.

Springsteen war sein Leben lang Musiker

Der Mann, den sie Boss nennen, schaut auf „Letter to you“ mehr zurück als nach vorne. Nicht er nimmt Reißaus, sondern die Zeit rennt davon. Das Stück „One Minute you’re here“, das das Album eröffnet, ist eine tieftraurige Folkballade, die sich gegen das Abschiednehmen, gegen die Vergänglichkeit, gegen das Verblassen der Erinnerungen stemmt. Und weil Springsteen eigentlich sein ganzes Leben immer nur Musiker war, sind die meisten Erinnerungsstücke, die er für dieses Album hervorkramt, mit den Bands verbunden, in denen er gespielt hat.

Auch „Ghosts“ ist ein Song, der sich weigert, Abschied zu nehmen, der mit Jingle-Jangle-Gitarren an verstorbene Bandmitglieder erinnert. „Last Man Standing“ führt zurück in die 1960er Jahre zu Springsteens erster Band, The Castiles, und setzt sich mit der Tatsache auseinander, dass außer ihm keines der damaligen Mitglieder noch am Leben ist. Und während Springsteen im Titelsong „Letter to you“ und in „House of thousand Guitars“ letztlich Liebeserklärungen an seine Band und den Rock ’n’ Roll formuliert, erklärt er in „The Power of Prayer“ Popmusik zu seiner Form des Betens: „Meine Gebete dauern oft nicht länger als drei Minuten und können bei 45 Umdrehungen pro Minute auf einem Plattenspieler abgespielt werden“, sagt er in der „Letter to you“-Doku. Und die Jungs in der Band nicken mit dem Kopf.

Bruce Springsteen und die E Street Band: „Letter to you“

Band
Seit Anfang der 1970er begleitet die E Street Band Bruce Springsteen bei Aufnahmen und Konzerten. Aktuell besteht die Band aus Stevie Van Zandt (Gitarre), Roy Bittan (Piano), Garry Tallent (Bass), Max Weinberg (Drums), Charlie Giordano (Orgel), Nils Lofgren (Gitarre), Patti Scialfa (Gesang) und Jake Clemons (Saxofon).

Album
„Letter to you“ (Columbia/Sony) ist das erste Album mit der E Street Band seit sechs Jahren. In Springsteens Heimstudio in New Jersey wurde die Platte im November 2019 in fünf Tagen aufgenommen.

Film
Zeitgleich zum Album wird am Freitag, 23. Oktober, beim Streamingdienst Apple TV+ Thom Zimnys Dokumentation „Bruce Springsteen’s Letter to you“ veröffentlicht. Der Film ist während der Albumaufnahmen entstanden, führt vor, wie sich die Musiker im Studio die Songs aneignen, und setzt der E Street Band ein filmisches Denkmal.