Der Einsturz der Morandi-Brücke im italienischen Genua mit mindestens 40 Toten wirft viele Fragen auf. Fachleute suchen jetzt nach den möglichen Ursachen des Unglücks. Wir sprachen mit einem Brückenexperten, wie diese Schadens- und Ursachenanalyse konkret abläuft.

Wochenend-Magazin: Markus Brauer (mb)

Genua/Münster/Stuttgart - Was ist in Genua geschehen? Ist ein Brückenpfeiler der vielbefahrenen Morandi-Brücke durch die unwetterartigen Regenfälle am Dienstag (14. August) unterspült worden? War das Baukonzept der fast 50 Jahre alten Brücke fehlerhaft? Hat die salzhaltige Luft in der nordwestitalienischen Küstenstadt der Konstruktion zugesetzt? Oder ist eines der stählernen, mit Beton ummantelten Schrägtragseile gerissen, wie Antonio Brencich, Professor für Baustatik und Stahlbetonbau an der Universität Genua, mutmaßt?

 

So läuft die Schadensanalyse und Ursachensuche ab

Wir sprachen mit dem Brückenexperten Heinrich Bökamp über die schwierige Suche nach den Ursachen für das Unglück in der norditalienischen Hafenstadt. Der Bau- und Prüfingenieur ist geschäftsführender Gesellschafter der Ingenieurgesellschaft Thomas & Bökamp in Münster und Mitglied der Ingenieurkammer-Bau Nordrhein-Westfalen.

„Es ist eine Art Tatort“

Herr Bökamp, wie gehen die Experten, die nach der Ursache oder den Ursachen für das Brückenunglück in Genua suchen, konkret vor? Wird man inmitten dieses gigantischen Schutthaufens überhaupt eine Fehlerquelle finden?

Die Suche nach den Ursachen verläuft ähnlich wie bei Gebäudebränden. Zuerst werden die Experten – Bau- und Prüfingenieure auf dem Gebiet der Tragwerksplanung im Brückenbau – alle Informationen, die es zu diesem Bauwerk gibt, zusammensuchen.

Um was genau herauszufinden?

Sie wollen herauszufinden, wo die Schwachstelle gelegen hat und das Unglück seinen Anfang nahm. An welcher Stelle hat die Konstruktion zuerst versagt? Im Fall von Genua gibt es sogar Bilder und Videos vom Einsturz.

Das klingt nach einer schwierigen Detektivarbeit.

Das ist es in der Tat. Die Prüfingenieure begutachten zuerst die Schäden vor Ort. Dann sammeln sie alle verfügbaren Unterlagen – Dokumente, Bauzeichnungen, statische Berechnungen, Zeitungsberichte. Gesucht wird die kritischste Stelle, an der man einen solchen Vorfall am ehesten erwarten würde.

Welche Rolle spielt dabei die Brückenhistorie?

Bei der Morandi-Brücke in Genua waren schon vorher Konstruktionsfehler bekannt. Die Experten werden alle Berichte und Gutachten studieren, in denen Defizite festgestellt worden sind. Danach werden sie herauszufinden versuchen, ob sich diese Berichte von besonders beanspruchten Bauteilen mit der Realität decken. Brisant sind beispielsweise die mit Beton ummantelten Schrägstahlseile, eine Besonderheit dieser Brückenkonstruktion. Sie galten schon lange als problematisch.

Wie geht es dann weiter?

Schließlich gleicht man all diese Fakten mit dem vorhandenen Bildmaterial vom Unglück ab. So kommt man der Schadensursache immer näher.

Und wann wird der Schutthaufen mit den eingestürzten Brückenteilen durchwühlt?

Erst ganz zum Schluss, um die gewonnenen Erkenntnisse zu überprüfen und die genaue Schadensursache ausfindig zu machen. Man muss sich das so vorstellen: Man hat diesen Riesenhaufen Schutt, den man nicht durcheinanderbringen darf. Weil er eine Art Tatort ist. Bevor die Experten also den Schutt untersuchen, müssen sie sich vorher alle verfügbaren Informationen holen, um eine Schadensanalyse zu erstellen und ihre Thesen anhand des Schutthaufens zu verifizieren.

Bei der regelmäßigen Kontrolle von Brücken verwenden Prüfingenieure spezielle Messgeräte. Werden sie nach einem solchen Unglück auch eingesetzt?

Nein, die braucht man nicht mehr. Jetzt muss man feststellen, welche konkrete Stelle versagt hat. War es der Stahl oder der Beton? War es einer der Pfeiler, der eventuell vom Regen unterspült wurde? Möglich ist auch, dass die Brücke selber gar kein Problem hatte, was zum Einsturz führte, sondern eher der Untergrund. Nach Abklärung all dieser Punkte bekommt man relativ genau die Ursache heraus.

Inwiefern unterscheidet sich die präventive Brückenkontrolle von der Schadensanalyse nach einem Unglück?

Anders als bei der Instandhaltung einer Brücke liegen Fakten vor. Damit kann man aber nur beschränkt etwas anfangen. Anders gesagt: Wo will man bei einem so gigantischen Schuttberg beginnen? Deshalb benötigt man zuallererst Informationen über die Schwachstellen des Bauwerks.

Ein Brückenteil gibt nach und dann kollabiert das ganze Bauwerk?

So in etwa. Die Experten müssen sich mit dem jeweiligen statischen System einer Brücke vertraut machen. Brücken sind höchst sensible Bauwerke. Sie werden insbesondere im Bereich von Autobahnen massiv beansprucht, vor allem durch den Schwerlastverkehr. Hinzu kommt: Jede Brücke ist ein bauliches Unikat, da hilft kein standardisiertes Notfallset, das immer wieder zum Tragen kommt.

Das bedeutet . . .

Das bedeutet: Bei Brückenunglücken liegt in der Regel immer eine Art Kettenreaktion vor. Wenn eine Stelle nachgibt, kommen andere Stellen hinterher, die nicht mehr tragfähig sind.

Was können denn Schwachstellen sein?

Vor allem das Material – also Beton und Stahl. Es können sich im Beton Risse bilden. In diesen Rissen trägt nur noch der Stahl. Das Problem ist aber noch ein anderes: Wenn Lkws über die Brücke fahren, öffnet und schließt sich der Riss im Beton bei jeder Überfahrt. Irgendwann führt diese Dauerbeanspruchung zu einer Überbeanspruchung des Stahls an dieser Stelle der Brücke.

Und was passiert dann?

Zum Schluss braucht es nur noch einen kleinen Auslöser, dass das ganze Bauwerk kollabiert. Der Grund: Der Stahl ist irgendwann an einer Ermüdungsgrenze. Wenn diese Grenze erreicht ist, kann ein einzelner Lkw die Brücke zum Einsturz bringen. Weil eine Stelle kaputt ist, wird die nächste Stelle umso mehr beansprucht und reißt. So kommt es zu der genannten Kettenreaktion.

Wie lange wird es dauern, bis das Gutachten der Experten vorliegt?

Die Prüfungen werden einige Wochen dauern. Das Gutachten muss von den Experten sehr sorgfältig erstellt werden. Denn in der Regel geht es nach einem solchen Unglück vor Gericht, wo Gegengutachten erstellt werden und es um hohe Schadensersatzklagen geht.