Arbeitsverdichtung, Stress, Nachtdrehs: Die Film- und TV-Branche fürchtet, dass der Nachwuchs zu Netflix & Co. abwandert. Dort sind die Arbeitsbedingungen wesentlich besser.

Baden-Baden - Und was machst du so?“ „Ich bin beim Film.“ Vier Worte nur, aber mit großer Wirkung, denn sie garantieren in jeder Runde große Aufmerksamkeit. Jahrzehntelang waren der Glamour-Faktor und das Interesse der Mitmenschen eine Art Ausgleich für die wenig erstrebenswerten Bedingungen, unter denen Kino- und Fernsehproduktionen entstehen. Leben aus dem Koffer, doppelt so viele Arbeitsstunden wie ein Beamter, Nachtdrehs: Dafür muss man geboren sein. Weil sich darauf jedoch immer weniger junge Menschen einlassen wollen, hat die Branche ein erhebliches Nachwuchsproblem. Die Folgen sind bereits spürbar. Immer wieder müssen Produktionen wegen Personalmangels verschoben werden.

 

Der Jurist Steffen Schmidt-Hug war Geschäftsführer des Bundesverbandes Regie (BVR) und betreut Filmschaffende in allen beruflichen Fragen. Er beschreibt den Status quo so: „Früher hatten Produktionsfirmen 30 Tage Zeit, um einen Fernsehfilm herzustellen. Die Sender zahlen nach wie vor im Schnitt 1,35 Millionen Euro für einen Film, aber die Produktionskosten sind natürlich gestiegen, weshalb die Zahl der Drehtage auf 20 reduziert werden musste. Das hat zwangsläufig eine brutale Verdichtung zur Folge; 70 Wochenstunden sind längst normal. Weil zwischen den einzelnen Arbeitstagen eine gesetzliche Ruhezeit von 11 Stunden einzuhalten ist, werden Nachtdrehs immer weiter Richtung Wochenende verschoben, sodass schließlich in der Nacht von Freitag auf Samstag quasi durchgedreht wird. Kein Wunder, dass es schon Meutereien am Set gegeben hat.“

Bei Netflix, Amazon & Co. sind die Arbeitsbedingungen deutlich besser

Die Konsequenz werde sein, dass viele Filmschaffende in Zukunft lieber für Netflix, Amazon & Co. arbeiten würden: „weil dort die spannenderen Projekte entstehen und die Arbeitsbedingungen deutlich besser sind. Die besten Talente werden sich vom klassischen Fernsehen verabschieden. Dann haben sich die Sender mit ihrer rigorosen Sparpolitik der letzten zwanzig Jahre endgültig ins Aus begeben.“ Den Redaktionen sei egal, „ob am Set Blut fließt, sie sind nur an einem Aspekt interessiert: Was kostet das Ganze? Ein Problembewusstsein wird vermutlich erst entstehen, wenn am Ende in der Programmplanung tatsächlich ‚Programm’ fehlt. Dann ist es jedoch viel zu spät.“

Die Filmschaffenden selbst schieben die Schuld allerdings nicht nur in Richtung Sender. Entscheidende Akteure sind nach Ansicht eines Verbandsvertreters die Produzenten und die Regisseure, die gegenüber den Sendern Stärke zeigen sollten, aber: „Die Produktionsfirmen machen das alles mit, weil sie auf die Aufträge angewiesen sind, und viele Fernsehregisseure sind bloß noch Papiertiger, denn die meisten künstlerisch relevanten Entscheidungen trifft die Redaktion.“

Stephan Wagner, mehrfacher Grimme-Preisträger, lange Vorstandsmitglied im BVR, beschreibt, wie sich die Rahmenbedingungen im Lauf der Zeit verändert haben. „Früher galt folgende kalkulatorische Faustregel: Technik ist teuer, Personal ist günstig. Also wurde so viel wie möglich in einen Drehtag gepackt. Als ich vor zwanzig Jahren meinen ersten Langfilm gedreht habe, war mir ein Arbeitstag, an dem mir das gesamte Team zur Verfügung stand, vertraglich mit zehn Stunden Minimum garantiert. Die Produktion hat in der Regel auf zehn Stunden plus Mittagspause disponiert; meistens wurden dann mit den üblichen täglichen Verzögerungen zwölf daraus. Hinzu kamen entsprechende Vor- und Nachläufe des Teams: Maskenzeiten, Auf- und Abbau, Kostümreinigung et cetera. Mittlerweile muss ich dankbar sein, wenn ich sieben Stunden mit dem Team und den Schauspielern arbeiten kann.“

ARD und ZDF müssen tarifvertragliche Regelungen einhalten

Es werde „mit großer Fahrlässigkeit in Kauf genommen, dass das Endprodukt gerade noch so gut ist, dass den Zuschauern der Qualitätsverlust nicht auffällt. Das wird den Auftraggebern über kurz oder lang um die Ohren fliegen.“

Auch die Verbandsvertreter sehen die Sender in der Pflicht. Da ARD und ZDF mit öffentlichen Mitteln hantierten, müssten sie bei Auftragsproduktionen darauf achten, dass tarifvertragliche Regelungen eingehalten werden. „Das tun wir auch“, versichert Barbara Biermann, Leiterin der SWR-Hauptabteilung Film und Doku: „Die Fragen hinsichtlich Arbeitsbelastung, Tarifgagen, Drehtagen und Wochenarbeitszeiten beschäftigen uns selbst als Produzenten.“ Der Sender stellt die Serie „Die Fallers“ sowie seine „Tatort“-Beiträge selbst her, vergibt die Mittwochsfilme jedoch als Auftragsproduktionen. Für die Eigenproduktion stünden in der Regel 23 Drehtage zur Verfügung. Die Budgets orientierten sich an den Inhalten der Stoffe: „Eine realistische finanzielle Ausstattung ist uns wichtig, um eine größtmögliche Qualität herstellen zu können.“ Für die von Schmidt-Hug behaupteten 1,35 Millionen Euro sei seit vielen Jahren keine fiktionale SWR-Auftragsproduktion mehr hergestellt worden.