Die Man-Booker-Preisträgerin Anna Burns hat den Nordirland-Konflikt in ein furioses und sehr aktuelles Sprachspiel verwandelt.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Alles, aber wirklich alles unterliegt hier strengen Regeln, über die die Gemeinschaft wacht. Und wenn ein Mädchen von einem Typen, der auch noch ein gewisses Ansehen genießt, wider ihren Willen belagert wird, dann hat sie schon verloren, egal, was tatsächlich passiert ist. Wie soll man sich auch gegen Gerüchte wehren in einer Welt, in der nicht Tatsachen zählen, sondern nur die Frage, auf welcher Seite der Straße man wohnt: ob man es mit denen jenseits der Grenze hält oder mit denen jenseits der See. Und wehe, man ignoriert die Gebietsaufteilungen, die streng nach Feind und Freund scheiden. Dann kann es passieren, dass die kinderreichen Großfamilien schnell um einige Mitglieder ärmer sind.

 

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Auch das Mädchen, das eines Tage beim Joggen von dem mehr als doppelt so alten verheirateten Mann belästigt wird und seitdem als mit ihm verbandelt gilt, hat bereits einen ihrer Brüder verloren. Und glücklicherweise wird auch ihr Verfolger, den alle nur Milchmann nennen, der in Wirklichkeit aber ein von der Gemeinschaft verehrter Paramilitär ist, zufällig von einem staatlichen Mordkommando erschossen, bevor es für das Mädchen zum Schlimmsten kommt.

Psychopolitisches Dauerfeuer

Wo sind wir in Anna Burns Roman „Milchmann“ nur gelandet? An einem Ort, der an keiner Stelle explizit genannt wird und den nur die Namenbildung der diversen „Irgendwer McIrgendwas“, die außer dem Milchmann der 18-Jährigen noch zusetzen, von anderen Bürgerkriegsgebieten unterscheidet: Nordirland zu den Hochzeiten des zwischen Unionisten und Nationalisten tobenden Konflikts. Das Mädchen ist die Ich-Erzählerin des 2018 mit dem Man-Booker-Preis ausgezeichneten Romans, der nun pünktlich zu den politischen Veränderungen jenseits der See auf Deutsch erscheint.

Auf welcher Seite der Straße sie wohnt, könnte man allein schon der literarischen Tradition entnehmen, aus der ihr atemloser Gedankenstrom entspringt: beste irische Provenienz. Doch in Wirklichkeit ist sie von dem psychopolitischen Dauerfeuer, das ihren Alltag prägt, so entnervt, dass sie sich durch den Notausgang der Literatur aus dem alltäglichen Stellungskampf verabschiedet, wann immer sie kann, auch beim Gehen. „Jeden Tag, bei jedem Wetter, trotz aller Waffengefechte und Bombenanschläge, Konfrontationen und Krawalle, spazierte ich mit einem Buch in der Hand nach Hause. Immer nur mit Büchern aus dem neunzehnten Jahrhundert, Bücher aus dem zwanzigsten Jahrhundert mochte ich nicht, weil ich das zwanzigste Jahrhundert nicht mochte.“

Vielleicht ist es diese literarisch geschulte Auffassungsgabe, die ihre Erzählung von einer Jugend zwischen den Fronten von Verweigerern und Befürwortern, Verrätern und Paramilitärs zu einem aberwitzigen Sprachspiel auf Leben und Tod werden lässt. Der Bürgerkrieg enthüllt sich als durchgeknalltes Symbolsystem, das eine furchtbare Macht über die Menschen behauptet. „Es gab Essen und Trinken. Die richtige Butter. Die falsche Butter. Den Treue-Tee. Den Verräter-Tee. Es gab ,unsere Läden‘ und ,deren Läden‘. Ortsnamen. Auf welche Schule man ging. Welche Gebete man sprach. Welche Kirchenlieder man sang. Ob das H gesprochen wurde oder nicht.“ Jede Handlung, jede Lebensäußerung, jede Leidenschaft wird zum politischen Statement.

Schillernde Komik

Der „Vielleicht-Freund“ der Erzählerin, ein liebenswerter Autonarr, gerät ins Visier, weil auf der von ihm gehüteten Reliquie eines Blower-Bentley-Oldtimers die Flagge des verhassten Staats jenseits der See prangt. Und wie im Fall der angeblichen Liaison seiner „Vielleicht-Freundin“ mit dem Milchmann, machen die Zeichendeuter der Gemeinschaft auch daraus eine Beziehung, die gefährliche Folgen nach sich zieht.

Es ist nicht immer leicht, dem Redeschwall der Erzählerin zu folgen. Die ritualisierten, zwanghaften Loops sind bisweilen so enervierend wie die Verhältnisse, die sie beschreiben. Ihre Geschichte folgt nicht der Logik der Ereignisse, sondern der wahnhaften Tyrannei der Zeichen. Sie trifft damit ins Herz des nationalistisch-repressiven Ausnahmezustands. Doch trotz des strengen Ordnungsrasters aus sozialer Kontrolle und Zugehörigkeitsritualen öffnen sich immer wieder kleine Fluchten: Durch sie flattern bunte, sympathische Vögel, die sich nicht festlegen lassen wollen, in den Roman, die die Absurdität der Lebensverhältnisse mit einer zarten, schillernden Komik abfedern.

Am Schluss kann die Erzählerin wieder unbeschwert joggen. Sie lässt die ganzen Regeln und Vorschriften ihres Bezirks hinter sich und merkt, wie sich etwas in ihr entspannt. Anna Burns hat ihr Buch im Präteritum geschrieben. Worauf sie aber zurückblickt, könnte durch die Entwicklungen in Großbritannien jederzeit wieder von der Vergangenheit zur Gegenwart werden.

Anna Burns: Milchmann. Roman. Aus dem Englischen von Anna-Nina Kroll. Klett-Cotta. 452 Seite, 25 Euro.