In ihrem bemerkenswerten Debütroman „Die Hochhausspringerin“ zeichnet Julia von Lucadou eine beklemmende Vision der Zukunft. Ohne sentimentale Klischees beschreibt sie, was bei dem digitalen Glücksversprechen auf der Strecke bleibt.

Stuttgart - Das Netz ist längst kein Ort von Frieden, Toleranz und Wohlgefallen mehr: Überall lauern russische Trolls, seelenlose Bots, böse Facebook-Algorithmen, um Wahlkämpfe zu manipulieren und den Konsum anzukurbeln. Neuere Romane wie Dave Eggers „Circle“ beschwören daher glaubhaft die drohende Machtübernahme Künstlicher Intelligenzen in allen Lebensbereichen: Arbeit, Freizeit, Politik, Gesundheit, Sexualität. Die jüngste und vielleicht beklemmendste dieser digitalen Dystopien kommt von Julia von Lucadou. In ihrem Debüt „Die Hochhausspringerin“ erzählt die Heidelberger Filmwissenschaftlerin von den Leerstellen und Schaltfehlern im großen Projekt der Aufklärung, der Verbesserung des Menschengeschlechts durch Überwachung, Kontrolle und Selbstoptimierung.

 

Wer in den luxuriösen Wohnungen im Zentrum der Städte wohnen will, muss perfekt funktionieren und sich ständig neu evaluieren lassen. Die weniger Glücklichen oder weniger Ehrgeizigen hausen draußen, offline, arm, rechtlos in den Slums der „Peripherien“. Jeder ist seines Glückes Programmierer, und „Daten lügen nicht“, wie der Mentalcoach weiß. In Lucadous Welt sind Meditation, psychologische Selbstanalyse und Mindfulness-Übungen am Arbeitsplatz Pflicht. Die Leistungen des Individuums werden mit Fitness- und Activity-Tracker lückenlos erfasst, die Daten mit Performance Reviews, Vitality-Score-Index und ständigen Rankings analysiert und bewertet. Es gibt keine Geheimnisse, keine Privatsphäre, kein Recht auf Versagen oder Wegducken mehr. Was nicht von Überwachungskameras und smarten Apps aufgezeichnet wird, postet die Generation Instagram freiwillig in ihren Profilen.

Superheldin der sozialen Netzwerke

Partnerschaften werden von Algorithmen arrangiert, „Matches“ münden im Idealfall in „Credit Unions“. Kinder werden nicht mehr von schlampigen Bioeltern aufgezogen, sondern in Genlaboren, Childcare-Instituten und Castingshows professionell für den Wettbewerb abgerichtet. Signale von Krankheit, Widerwillen oder gar Widerstand werden frühzeitig geortet und proaktiv beseitigt. Die Megacity der Zukunft ist weder lokal noch zeitlich lokalisierbar und namenlos. Dafür tragen ihre Einwohner so bizarre Namen wie Beluga Gans, Royce Hung und Hugo M. Master.

Riva, die attraktive junge Frau im silbernen FlysuitTM-Anzug, ist der Star der Skydiving-Szene und eine „sakrale Superheldin“ der sozialen Netzwerke. Bis die Hochhausspringerin eines Tages, scheinbar ohne Grund, die Lust an ihrer Todesakrobatik vor Publikum verliert. Keine Sponsorenverträge, keine Fotoshootings, keine Selfies und Blogs mehr: eine Katastrophe für Berater, Investoren und Fans. Hitomi Yoshida, Datenanalystin und Tablet-Seelsorgerin bei PsySolutions, soll herausfinden, wie es zu dem bedauerlichen Funktionsversagen kommen konnte. Wenn die Wirtschaftspsychologin die Cash-Kuh Riva nicht wieder in die Spur setzen kann, verliert sie selber alle Privilegien von der Designerwohnung im Zentrum bis zum Zugriffsrecht auf die einzig wahre digitale Realität.

Zoom aus dem All

Das vereinsamte, entrechtete Subjekt, das sich einer total kontrollierten Gesellschaft verweigert oder ganz in den Untergrund abtaucht: Man kennt das aus Romanen und Filmen wie „1984“, „The Circle“, „Matrix“ oder „Die Tribute von Panem“. Lucadou spielt die bekannten Muster mit großer Konsequenz, Präzision und Radikalität durch. Ihre Kritik der neoliberalen Leistungsgesellschaft 4.0 ist nicht ganz frei von Sentimentalität und Klischees, aber Lucadou neigt weder zu „Nostalgia Porn“ noch zu Oldschool-Moralpredigten. Nüchtern, kühl, in kurzen, schmucklosen Sätzen, mit einem Staccato stilechter Marketing- und Motivationsphrasen wie „Life-Changing-Moment“ oder „Everything’s gonna be okay TM“ erzählt sie, wie mit dem Versprechen auf mehr Effizienz, Wachstum, Freiheit und personalisiertem Glück durch digitale Transformation alles verdrängt, gedämpft, zerstört wird, was Leben ausmacht: Spontaneität, Schmerz, Dreck, Emotion, Poesie. Der Roman beginnt mit einem Zoom aus dem All. Aber Lucadou erklärt die Zukunft nicht von weit oben herab, mit bedenklichem Stirnrunzeln oder ironischem Blinzeln. Sie beschreibt sie von innen heraus, ungemütlich nah an unseren Erfahrungen, Ängsten und Vorstellungen.

Es gibt viel mehr als „Glamour und Credits und Fame“. Der Hacker Zeus Schmidt rät Hitomi: „Lassen Sie das Chaos zu.“ Aber ihr Leben ist schon von zu viel Viren, Malware und falschen Erinnerungsdaten infiziert, als dass sie sich noch einmal updaten oder ausloggen könnte. Julia von Lucadou lässt in ihrem bemerkenswerten Erstling offen, wer Täter oder Opfer, Sieger oder Loser, was noch schwereloser Flug und was schon Absturz in die perfekte Leere ist. Am Ende steht jedenfalls ein „Exit Package“, das Hitomi nicht nur aus ihrer kleinen Welt der Bonuspunkte, Pixelschatten und Mindful-Übungen hinauskatapultiert.

Julia von Lucadou: Die Hochhausspringerin.
Roman. Hanser Berlin. 288 Seiten, 19 Euro.