Wiedersehen mit Olive Kitteridge: Nach über zehn Jahren kehrt die US-amerikanische Autorin Elizabeth Strout an den Schauplatz ihres großen Erfolgs „Mit Blick aufs Meer“ zurück. Ihr neuer Roman „Die langen Abende“ ist ein reifes Meisterwerk.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Da ist zum Beispiel die nicht mehr ganz junge Frau, die ihren Eltern erklärt, dass sie ihre Erfüllung als Domina gefunden hat. Bizarrer allerdings als der Einblick in dieses Berufsbild sind die Lebensumstände des moralisch entrüsteten Ehepaars, das sich in einer mit Klebestreifen abgeteilten Wohnung seit Jahrzehnten auseinandergelebt hat und nur noch über den gemeinsamen Hund kommuniziert. Und während die Tochter dem fassungslosen Vater vergeblich ihre Rollenspiele zu erklären versucht, spaziert dieser unangefochten von allen Zweifeln in Verbundenheit zu seinen schottischen Wurzeln im Rock durch die Straßen des kleinen Städtchens. Was wiederum abgebrühte Besucher aus dem einige Stunden entfernten New York in Erstaunen versetzt.

 

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Oder die fürchterliche Babyparty für die Tochter einer Freundin, auf die es die verwitwete frühere Mathematiklehrerin Olive Kitteridge verschlagen hat: Zu abscheulichen russischen Eiern werden niedliche Nichtigkeiten ausgetauscht, und alles endet damit, dass ein „spatzenhirniges junges Ding“ ausgerechnet auf der Rückbank von Olives Autos niederkommt. Vielleicht wäre die zupackende alte Dame ohne diese zweifelhaften Erfahrungen weniger von ihrem eigenen Älterwerden befallen worden, und wer weiß, ob sie sonst diesen „grässlichen alten Großkotz von einem Mann“ überhaupt angerufen hätte, mit dem sie sich im Frühling ein paar Wochen lang schon einmal getroffen hat. Kurz zuvor ist dieser 74-jährige frühere Harvard-Professor schon einmal in seinem Sportwagen am Leser vorbeigefahren, gepeinigt von der Erfahrung der Einsamkeit, eines Hängebauchs und dem Bewusstsein, seiner einige Monate zuvor verstorbenen Frau nicht gerecht geworden zu sein.

Eine ziemlich korpulente Gestalt

So kommt in dem neuen, wunderbaren Roman der amerikanischen Schriftstellerin Elizabeth Strout eines zum anderen – auf Wegen, die apart aneinander vorbei führen und doch zuinnerst miteinander zusammenhängen wie die einzelnen Erzählungen, aus denen „Die langen Abende“ gefügt sind, auf die das Leben der Bewohner des fiktiven Städtchens Crosby im US-Bundesstaat Maine zuläuft. Manchen von ihnen konnte man schon früher einmal begegnen in dem zu Pulitzerpreis- und Serien-Ehren gekommen Vorgängerroman „Mit Blick aufs Meer“ – allen voran eben jener Olive Kitteridge, deren einprägsame, mittlerweile ziemlich korpulente Gestalt immer mal wieder auch dann durchs Bild läuft, wenn gerade eigentlich anderes im Mittelpunkt steht. Zum Beispiel die so merkwürdige wie anrührende Beziehung, die die junge Kayley zum dementen Mann einer von Kitteridges Kolleginnen unterhält, in deren Haus das Mädchen sich als Putzhilfe etwas dazu verdient. Oder Cindy Coombs’ Kampf gegen den Krebs, dessen Dunkelheit von einem unglaublich sanft strömenden Februarlicht erhellt wird, wie man es nur sieht, wenn der Tag dem Ende zugeht.

Viele der Leute aus Crosby und dem Nachbarort Shirley Falls haben schon bessere Zeiten gesehen. In den vergangenen mehr als zehn Jahren sind sie nicht jünger geworden. Jeder hier hat seine kleinen und großen Verbrechen begangen, seine kleinen und großen Freuden erlebt, Hoffnungen haben sich nicht erfüllt, und was der Tod nicht geschieden hat, scheidet das Leben. Alle haben ihre Macken abbekommen, und wie anderswo auch spaltet ein von Olive Kitteridge verabscheuter Präsident ein Land, das einmal ein Schmelztiegel sein sollte, aber seine Temperatur nie erreicht hat.

Die auf Verfehlungen und Versäumnisse zurückblickenden Bewohner von Elizabeth Strouts Romankosmos wären ideale Kandidaten für das, was bei Henrik Ibsen Gerichtstag heißt. Genüsslich könnten aus der schrumpelnden Hülle ihrer Lebensverhältnisse die Lebenslügen herausgeschält werden. Doch in der Autorin haben sie eine gnädige und weise Richterin gefunden. Nichts, keine noch so feine Nuance, noch so versteckte Regung entgeht ihr. Vor exzentrischsten Zumutungen wendet sie den Blick nicht ab. Aber ihr kommt es nicht darauf an, möglichst harte Urteile zu sprechen, weil sie weiß, dass die auf den Irrwegen ihres Lebens Ertappten mehr unser Mitgefühl als feixende Genugtuung verdienen.

Liebenswerte Kratzbürste

Gleich weit entfernt von voyeuristischer Lust und idyllisierender Verklärung folgen diese in loser Folge knapp zehn Jahre umspannenden Szenen aus dem Privatleben den Bürgern Crosbys von den einstigen Orten der Verführung in Fußpflege-Praxen, Pflegeheime und darüber hinaus. Man kann vielleicht zu alt sein, sich selbst die Zehennägel zu schneiden, aber nicht, um sich noch heftig zu verlieben. Eleganter, zwangloser wurden selten die Darstellungsklippen umschifft, die sonst allenfalls unter der Flagge heikler Tabuthemen-Erkundung in den Blick geraten.

Mit sicherer Hand steuert Elizabeth Strout die Gebrechen, Hinfälligkeiten, aber auch Leidenschaften und Erkenntnisse des Alterns dorthin, wo sie hingehören: in die Mitte des Lebens, wo sie sich unter die anderen Gebrechen, Hinfälligkeiten und Leidenschaften mischen, mit denen wir unsere Zeit verbringen. Bis wir eines Tages wie jener alte Geck im Sportwagen staunend feststellen müssen, dass uns niemand mehr wahrnimmt. Was für ein Glück bedeutete es dann, jemanden wie diese liebenswerte alte Kratzbürste Olive Kitteridge zu treffen, die bis zuletzt an der zentralen Frage ihres Daseins laboriert: „Wer waren sie, wer waren sie gewesen? Und wer – wer in aller Welt – war sie selbst?“

Die Antwort bleibt offen, und unerfüllt bleibt der Wunsch des Lesers, dass diese „langen Abende“ nie zu Ende gehen sollten. Aber man wird die Weggefährtin dieses Romans so schnell nicht vergessen: in dieser charakteristischen Bewegung, schon halb abgewandt und eine winkende Hand über dem Kopf.

Elizabeth Strout: Die langen Abende. Roman. Aus dem Amerikanischen von Sabine Roth. Luchterhand Literaturverlag. 352 Seiten, 20 Euro.